Magazin für Kultur

Kategorie: Vortrag

Fotografie der Abwesenheit

Wenn wir in einem ver­lasse­nen Zim­mer ste­hen, eine Stereo-Anlage neben dem Bett und ein Poster an der Wand sehen, dann sind das bloße Gegen­stände, die nur auf sich selb­st ver­weisen. Und doch sind es Spuren, die uns vor Augen führen, was den Raum zu einem frem­den Raum macht. Plöt­zlich erken­nen wir die Abwe­sen­heit, die all den Gegen­stän­den um uns herum innewohnt. Der Raum entzieht sich uns, weil er auf einen anderen ver­weist, auf jeman­den, der auf diesem Bett Musik gehört und der dieses Poster ange­bracht hat. Indem jemand diesen Raum bewohnte, hat er ihm einen tran­szen­den­ten Sinn gegeben. Wenn wir nun das Zim­mer vor uns sehen, erschließt sich uns vielle­icht nicht sein Sinn und doch spüren wir die Abwe­sen­heit eines anderen.

Anna Lehmann-Brauns und Julia Rosen­baum

Dieser Abwe­sen­heit nachzus­püren, kön­nte man als lei­t­en­des Motiv der Fotografin Anna Lehmann-Brauns beze­ich­nen. Beim 8. Salon für Kun­st und Kul­tur wurde die Kün­st­lerin vorgestellt. Der Salon find­et vier­mal im Jahr zu unter­schiedlichen The­men statt und wird von der Fotografin Anett Stuth gemein­sam mit der Kun­sthis­torik­erin Julia Rosen­baum ver­anstal­tet. Neben einem Kün­st­lerge­spräch, gab es die Möglichkeit in ein­er Werkschau einen Überblick über die let­zten zwanzig Jahre aus dem Schaf­fen Anna Lehmann-Brauns zu erhal­ten. Die Mod­er­a­tion über­nahm Julia Rosen­baum.

Der Charme des Verfalls

Wenn Anna Lehmann-Brauns davon spricht, was sie immer wieder aufs Neue fasziniert, dann ist es das Herun­tergekommene, Schäbige, was aber den­noch seinen Glanz bewahrt hat. In ihren Fotografien ist genau dieser Bruch zwis­chen der aktuellen Wahrnehmung und einem unbes­timmten Vorher spür­bar. Dieses Vorher scheint das eigentliche Herzstück des Bildes zu sein. Im Vorhinein hat sich eine Geschichte ereignet und Geschicht­en sind es, die die Fotografin mit ihren Bildern verbindet.Ob es der Kün­st­lerin um das aneignen von etwas Frem­den geht?, fragt Julia Rosen­baum. Denn das Fremde scheint in Anna Lehmann-Brauns Fotografien immer anwe­send zu sein. Es sind nicht zulet­zt die Geschicht­en von Frem­den, die sie mit ihrer Fotografie ein­fängt. Außer­dem ist die Fremde für eine Kün­st­lerin rel­e­vant, die sowohl in den USA als auch in Chi­na tätig war. Lehmann-Brauns betont, dass Fotografie für sie ein Mit­tel ist, um sich in der Welt zurechtzufind­en.

Bitterblue

Immer wieder kommt Julia Rosen­baum auf das The­ma der kom­ponierten Räume zu sprechen. Erste Bekan­ntheit erlangte die Kün­st­lerin näm­lich durch die Serie „bit­terblue“, in der sie Mod­elle in Pup­pen­stuben­größe – anfangs noch recht über­laden und zulet­zt ganz schlicht – fotografierte. Sie bilden den Grund­stein für ihre weit­ere Arbeit und ihr Inter­esse an Räu­men. Nach dem Abschluss ihrer Diplo­mar­beit im Jahr 2000 hat sie sich real großen Räu­men zuge­wandt. Mit diesem Ansatz absolvierte sie die Meis­terk­lasse bei Joachim Brohm an der Hochschule für Grafik und Buchkun­st in Leipzig.

Wild Side West

Das Inter­esse für Räume ist zwar geblieben, doch spätestens der 5‑monatige Aufen­thalt in San Fran­cis­co im Jahr 2016 macht die grund­ver­schiedene Arbeitsweise evi­dent. Anna Lehmann-Brauns entsch­ied sich dafür, die lokalen Clubs der LGTB-Szene zu fotografieren. Schon rein zeitlich war es der Kün­st­lerin nicht möglich die Bilder zu arrang­ieren. Notge­drun­gen musste sie mit dem arbeit­en, was sie vor­fand. Inter­es­san­ter­weise bedeutet das für die Kün­st­lerin aber keinen Gegen­satz zur mod­ell­basierten Fotografie. In bei­den Fällen geht es für sie darum, aus dem Chaos, das sich ihr dar­bi­etet, ein „kom­poniertes“ Bild her­auszu­fil­tern. Das Bild fügt sich im Blick der Kün­st­lerin zu einem Arrange­ment zusammen.Und auch dem Betra­chter ihrer Fotografien bieten sich die Räume in diesem Sinne dar. Wenn wir einen Raum betra­cht­en, erschließen sich uns die Dinge in ihrem Uten­sil­ität­skom­plex. Der Fotografin gelingt es, diese tran­szen­dente Struk­tur in ihren Fotografien einz­u­fan­gen.

Letzter Vorhang

Ein anderes Pro­jekt war die Serie „Let­zter Vorhang“, bei der Anna Lehmann-Brauns 2018 ein halbes Jahr lang die Komödie am Kur­fürs­ten­damm fotografierte und damit den Abriss qua­si begleit­ete. Die Kün­st­lerin ist gegenüber vom The­ater geboren und verbindet daher per­sön­liche Erin­nerun­gen damit. Als Betra­chter ist man geneigt, sich eben­falls mit dem The­ater ver­bun­den zu fühlen. Denn die Geschicht­en, die sich vorher dort abge­spielt haben, sind auf den Fotografien beina­he greif­bar.

Titel­bild: © Anna Lehmann-Brauns

Über die Verheißung der Freiheit und die Last der Verantwortung

Eine Vor­tragsrei­he der Kon­rad-Ade­nauer-Stiftung zum The­ma „20. Juli 1944 — Ver­mächt­nis und Zukun­ft­sauf­trag“ nahm Bun­de­spräsi­dent a.D. Joachim Gauck an diesem Mittwoch zum Anlass, an unsere ure­igen­ste Sein­sweise zu appel­lieren: Die Frei­heit.

Freiheit vs Ohnmacht

Unter dem Vorze­ichen, nicht den real existieren­den Sozial­is­mus der DDR mit dem Nation­al­sozial­is­mus gle­ichzuset­zen, erzählt Joachim Gauck von Episo­den aus seinem Leben, wie er sie in der Dik­tatur der Kom­mu­nis­ten erlebt hat.

Entschei­dun­gen, die man heutzu­tage selb­stver­ständlich trifft, beispiel­sweise auf welch­er weit­er­führen­den Schule man sein Kind anmelden soll, wurde in der DDR fremdbes­timmt. Nach Gauck stellt sich mit der Zeit ein Gefühl ein, dass man gelebt wird. So lerne man — auch in ein­er Dik­tatur, die nicht mordet und keine Konzen­tra­tionslager hat, son­dern nur in den ern­steren Fällen nach wirk­lich üblen Repres­salien greift — ganz schnell, sich an Ohn­macht zu gewöh­nen.

Doch dieses Gefühl der Ohn­macht hängt nach Gauck keineswegs mit der Staats­form zusam­men, son­dern mit einem Para­dox der men­schlichen Exis­tenz. Neben der Sehn­sucht nach Frei­heit spüre der Men­sch zugle­ich eine Furcht vor der Frei­heit. Denn als freie Men­schen sehen wir uns mit ein­er Fülle von Möglichkeit­en kon­fron­tiert und erken­nen zugle­ich, dass wir „die Bes­tim­mer“ unseres Lebens sind. Ohn­macht habe insofern auch etwas Ver­führerisches. Nicht jed­er Men­sch eigne sich dazu, seine Frei­heit selb­st­bes­timmt zu affir­mieren.

Wer sich sein­er Frei­heit bewusst wird, spüre zugle­ich die Last sein­er Ver­ant­wor­tung. Häu­fig suche man dann nach Möglichkeit­en, seine Ver­ant­wor­tung abzugeben, weil man sich nicht für befähigt genug halte. In der Dik­tatur wie in der Demokratie ist man laut Gauck in Ver­suchung, sich für nicht zuständig zu erk­lären. Wenn man dem nachgibt, sei das eine frei­willige Einkehr in ein Are­al von Ohn­macht. In dieser Sit­u­a­tion könne uns die Ver­gan­gen­heit eine Stütze sein. Denn die großen Namen des Wider­stands kön­nen uns in dem Gefühl bestärken, dass wir eine Wahl haben. In der Dik­tatur wie in der Demokratie haben wir die Wahl „das weniger Schlechte oder das etwas Bessere, das etwas Men­schlichere, das etwas Mutigere“ zu tun.

Die Gabe der Verantwortung

Gauck beze­ich­net es als „Gabe“, dass wir ver­ant­wor­tungs­be­wusst sind, dass wir den Mut haben kön­nen, uns selb­st als ver­ant­wor­tungs­fähige Wesen zu begreifen. Dieses Bewusst­sein von Frei­heit ist nach Gauck der Inbe­griff von Demokratie: „Wir erk­lären uns für zuständig.“ Um diese Rolle in der Demokratie zu erler­nen, brauchen wir Men­schen, die uns etwas von Werten erzählen und die uns diese Werte vor­leben.

Es geht also laut Gauck nicht darum, sich zu fra­gen, ob man zum Mär­tyr­er taugt, son­dern darum, welche Fähigkeit man hat, an der man wach­sen kann, und in welchem Maße einem das Vor­bild dieser Wider­stand­skämpfer hil­ft, die eige­nen Schwächen zu min­imieren.

CSI: Frankfurt

Über die Knochenar­beit eines Rechtsmedi­zin­ers sprach Prof. Dr. Mar­cel A. Ver­hoff, Direk­tor des Insti­tuts für Rechtsmedi­zin am Uni­ver­sität­sklinikum Frank­furt am Main, an diesem Mittwoch in der hes­sis­chen Lan­desvertre­tung.

Ein Schw­er­punkt des Insti­tutes liegt auf der foren­sis­chen Ento­molo­gie, also auf der wis­senschaftlichen Erforschung von Insek­ten zur Aufk­lärung von Ver­brechen. Das Insti­tut für Rechtsmedi­zin in Frank­furt ist europaweit eines der forschungsstärk­sten Ein­rich­tun­gen auf diesem Gebi­et. Ein anderes Spezial­ge­bi­et der Rechtsmedi­zin ist die foren­sis­che Oste­olo­gie, die dann zum Ein­satz kommt, wenn vom Men­schen nur noch Knochen übrig sind. Es geht also um echte Knochenar­beit — wie der Titel der Ver­anstal­tung schon nahelegt: „CSI oder Knochenar­beit? Foren­sis­che Oste­olo­gie in der mod­er­nen Rechtsmedi­zin“.

Die Rechtsmedizin als Wissenschaft

Ein Tather­gang wird mitunter vom Tatverdächti­gen, vom ver­meintlichen Opfer und von beteiligten Zeu­gen unter­schiedlich beschrieben. Wenn es darum geht, solche Szenar­ien zu beurteilen, wer­den von den Rechtsmedi­zin­ern Wahrschein­lichkeit­sangaben gefordert. Im Strafrecht wird die an Sicher­heit gren­zende Wahrschein­lichkeit voraus­ge­set­zt. Die Rechtsmedi­zin ist daher auf eine gut doku­men­tierte Beweis­lage angewiesen. Ihre Aus­sagen trifft sie mit Bedacht, denn nur in einem von tausend Fällen wird ihr ein Irrtum zuge­s­tanden.

Um dem eige­nen wis­senschaftlichen Anspruch zu genü­gen, ist die Rechtsmedi­zin mit der Schwierigkeit kon­fron­tiert, dass es nur geringe Fal­lzahlen gibt. Manch­mal grün­den Erken­nt­nisse auf Einzelfällen. Daher kommt es darauf an, die einzel­nen Fälle so gut wie möglich auszuar­beit­en bzw. nachzuar­beit­en: In Stu­di­en wer­den häu­fig Re-Eval­u­a­tio­nen durchge­führt, um ein bes­timmtes Phänomen zu vali­dieren. Die Pub­lika­tion von Fall­beispie­len gestal­tet sich für die Rechtsmedi­zin auf­grund des pub­li­ca­tion bias und nationaler rechtlich­er Eigen­heit­en schwierig.

Was uns ein Knochen zu sagen hat

In der Prax­is lässt schon ein einzel­ner Knochen Rückschlüsse auf das Geschlecht und die Kör­per­größe des Ver­stor­be­nen zu. Sta­tis­tisch gese­hen habe Män­ner län­gere Beine als Frauen, d. h. ein langer Glied­maßen­knochen deutet auf einen Mann hin. Es gibt darüber hin­aus ver­schiedene Formeln zur Rekon­struk­tion der Kör­per­größe zum Beispiel von Her­bert Bach aus dem Jahr 1965. Allerd­ings müssen dabei Schwankun­gen inner­halb ein­er Pop­u­la­tion berück­sichtigt wer­den. Heutzu­tage wer­den virtuelle Knochen aus post­mor­tal­en Com­put­er­to­mo­grafien als Ref­erenz herange­zo­gen. Das Alter eines Men­schen kann beispiel­sweise auf­grund der Schädel­naht rekon­stru­iert wer­den, denn diese Naht ver­schließt sich mit zunehmenden Alter. Ein Forschung­spro­jekt an der Uni­ver­sität Gießen hat­te das Ziel, diese Rekon­struk­tion­sleis­tung zu automa­tisieren.

Pro­fes­sor Ver­hoff ver­wies auch auf einige Anwen­dungs­beispiele aus der Prax­is. So kon­nte man inter­es­sante Ein­blicke in die hes­sis­che Krim­i­nalgeschichte gewin­nen und in den Beitrag, den die Rechtsmedi­zin zur Aufk­lärung leis­ten kon­nte.

Titel­bild: © Eck­hard Joite

Pariser Platz der Kulturen

Seit einem Jahr ist Matthias Schulz alleiniger Inten­dant der Staat­sop­er Berlin. Beim 58. Paris­er Platz der Kul­turen berichtete er im Gespräch mit der Mod­er­a­torin Petra Gute von Strate­gien, die das Tra­di­tion­shaus mit Leben füllen sollen.

Dabei ken­nt er keine Alters­beschränkung, vielmehr sind ger­ade junge Men­schen ange­sprochen. Um junge Surfer direkt zu erre­ichen, bedi­ent die Staat­sop­er sämtliche Social Media Kanäle. Dabei ist sie nicht ein­mal eigen­nützig, son­dern will ein­fach das über­bor­dende, unmit­tel­bare Erleb­nis „Oper“ mit seinem Pub­likum teilen.

Nachwuchspublikum

Das ist ein Ini­tial­mo­ment, meint Matthias Schulz, der einen Kon­takt zur Oper in jun­gen Jahren für unab­d­ing­bar hält. Kinder- und Jugen­dar­beit wird aber auch son­st an der Staat­sop­er großgeschrieben: Junge Musiker*innen dür­fen sich etwa im Kinderorch­ester bewähren, wobei ange­hende Kulturjournalist*innen Rezen­sio­nen ver­fassen.

Wie unter­schiedlich Opern­er­leb­nisse aus­fall­en, hängt zum Großteil an der Insze­nierung. Die Staat­sop­er präsen­tiert eine große Band­bre­ite an Insze­nierun­gen unter Umstän­den auch ein und des­sel­ben Werkes, wie am Beispiel der „Zauber­flöte“ von Yuval Sharon bzw. August Everd­ing derzeit zu sehen ist.

Nachwuchskünstler

Natür­lich möchte nicht nur das Nach­wuch­spub­likum für die Staat­sop­er gewon­nen wer­den, son­dern auch die Nach­wuch­skün­stler. Dafür hat die Staat­sop­er 2007 ein inter­na­tionales Opern­stu­dio ins Leben gerufen, der aktuell unter anderem Sarah Aris­ti­dou ange­hört, die an diesem Abend eine Kost­probe ihrer Kun­st gab. Ein anderes For­mat ist die Orch­ester­akademie, die als Teil der Staatskapelle Berlin jun­gen Instrumentalist*innen die Möglichkeit bietet während des Studi­ums schon Büh­nen­luft zu schnup­pern.

Wer sagt, dass Oper elitär und welt­fremd wäre? – nie­mand, den ich kenne. Und die anderen kön­nen sich gerne vom Gegen­teil überzeu­gen lassen. Der Spielplan dieser Sai­son spricht im Übri­gen für sich selb­st.

Im Gespräch mit György Konrád

Györ­gy Kon­rád schreibt im Vor­wort seines neu erschiene­nen Werkes: „Ich mag Büch­er, bei denen man nach jedem Satz eine Pause ein­le­gen muss.“ Unter dem Titel „Gäste­buch. Nachsin­nen über die Frei­heit“ ist es im Suhrkamp-Ver­lag erschienen. Wer Kon­ráds Anspruch teilt, muss dieses Buch mögen.

An diesem Mittwoch stellte der Autor es im Max-Lieber­mann-Haus vor. Zur Ein­führung sin­nierte Pro­fes­sor Peter-Klaus Schus­ter, ein Vor­standsmit­glied der Stiftung Bran­den­burg­er Tor, darüber, welchem Genre der Text wohl zuzurech­nen sei, und greift damit die ersten Pas­sagen des Buch­es auf. Ins­ge­samt ist das Buch von einem reflek­tieren­den, selb­stkri­tis­chem und erfahrungsre­ichen Geist erfüllt.

Kindheit im Zweiten Weltkrieg

1933 in einem ungarischen Dorf geboren, entkam Kon­rád als 11-Jähriger knapp den Nazi-Scher­gen. Im Buch räumt er ein Schuld­be­wusst­sein ein, das er seit früh­ester Kind­heit emp­fun­den habe, „näm­lich dass hier etwas nicht in Ord­nung sei und ich mich nur deshalb, weil wir ein wohlhaben­deres Leben führten als die Anderen, vielle­icht schä­men müsse.“

Immer wieder ruft Kon­rád Men­schen aus sein­er Ver­gan­gen­heit her­bei. Gedanken über seine Rolle als Fam­i­lien­vater schließen an Gedanken an das Eheleben der Eltern an. Müt­ter ver­di­enen Dank, schreibt Kon­rád. Aber auch die Väter wür­den ihr Schick­sal tra­gen: „Aus jüdis­chem Arbeits­di­enst, aus Kriegs­ge­fan­gen­schaft heimgekehrte Väter, als Kriegsver­brech­er aufge­hängte Väter, im Gefäng­nis gebroch­ene, vor Angst verblödete Väter…“ Die Men­schen tra­gen in Kon­ráds Gedanken­welt nicht nur ihr eigenes Schick­sal, son­dern wer­den gle­ich­sam zum Schick­sal für andere. Die Eltern prä­gen das Leben ihrer Kinder. Die Schwest­er ist für Kon­ráds Mut­ter noch lebendig, auch als sie bere­its ver­stor­ben war. Kon­rád bringt dies auf die Sen­tenz: „Wie die Füße das Laufen, so braucht der Men­sch die Erin­nerung.“

Strom der Erinnerung

Für manche Autoren mag das Phänomen der Gle­ichzeit­igkeit ein Prob­lem darstellen, denn der Plot ver­langt eine Rei­hen­folge. Kon­rád ste­ht über solchen Beschränkun­gen. Das Bewusst­sein fol­gt kein­er Chronolo­gie, son­dern springt von einem Ereig­nis der Ver­gan­gen­heit in die Gegen­wart und hält bei alle­dem ein teils erhofftes teils gefürchtetes Zukun­fts­bild lebendig. Diese Transluzid­ität und Gle­ichzeit­igkeit des Bewusst­seins fängt Kon­rád in seinem Text ein.

Györ­gy Kon­rád über­lebt in Budapest die Nazi-Okku­pa­tion unter dem Schutz eines Schweiz­er Botschaft­sange­höri­gen. Auch seine Eltern, die im Mai 1944 deportiert wur­den, über­lebten. Anschließend studierte Kon­rád in Budapest Lit­er­atur­wis­senschaft und Sozi­olo­gie bis zum Ungar­nauf­s­tand 1956.

In Sätzen, die selb­st wie zusam­men­hanglose Trüm­mer nebeneinan­der ste­hen, zeich­net er ein erschüt­tern­des Bild von Budapest 1956: „Budapester Trüm­mer­land­schaft. Aus­bran­nte, eingestürzte, zer­bombte Häuser oder durch Kanonenkugeln durch­löcherte Häuser, blinde Fen­ster…“ Leichen wur­den not­dürftig in Grü­nan­la­gen ver­schar­rt, über­all dort, wo lose Erde aufge­häuft wer­den kon­nte.

Begegnungen

An ander­er Stelle beschreibt Kon­rád eine Begeg­nung mit dem jugoslaw­is­chen Schrift­steller Dani­lo Kiš, der offen­bar ganz egal, wo er sich befand, der Mit­telpunkt eines Grav­i­ta­tions­feldes war. In dessen Nähe rekel­ten sich hüb­sche Frauen, um Dani­los Aufmerk­samkeit zu erhaschen. Auf die Welt­prob­leme ange­sprochen gab Kiš zu ver­ste­hen, dass „die men­schlichen Prob­leme wed­er gelöst wer­den kön­nten noch müssten“.

Der Assozi­a­tion­step­pich Kon­ráds führt den Leser auch zur Wannseekon­ferenz. Dazu schreibt Kon­rád: „Endlö­sung? Hier ste­he ich als ein Beispiel, dass es doch nicht vol­lkom­men gelun­gen ist.“ Das Grauen des Holo­caust bekommt ein Gesicht, wenn man erfährt: Abge­se­hen von seinen Cousins, sein­er älteren Schwest­er und ihm selb­st, seien alle Schulka­m­er­aden zusam­men mit seinen Cousi­nen in Gas und Feuer aus­gelöscht wor­den. Weit­er­hin schreibt er: „Von den moral­isierend Fra­gen­den wende ich mich ab und sage: Wed­er Rache noch Verge­bung! Die Täter müssen mit dem eige­nen Schuld­be­wusst­sein leben. Wie lange? Lebenslänglich. Der Mörder bleibt bis zu seinem Tod ein Mörder.“

Es ist ein zirkulär­er Gedanken­gang zu erken­nen. Im Fort­laufen des Denkens tauchen immer wieder wie ein unhin­terge­hbares Skan­dalon die Schulka­m­er­aden auf, die flankiert wer­den von Gedanken und Assozi­a­tio­nen über die Shoa, die Kind­heit etc.

Anfänge als Schriftsteller

Von 1959 bis 1965 arbeit­et Kon­rád als Jugend­schutzin­spek­tor für die Vor­mund­schafts­be­hörde eines Budapester Stadt­bezirks. 1968 erschien sein erster Roman. Schon die Veröf­fentlichung des zweit­en Romans „Der Stadt­grün­der“ war schwierig. Györ­gy fasst das in dem Satz zusam­men: „Auch Büch­er haben ihr Schick­sal.“ 1973 stellte er seinen zweit­en Roman fer­tig. Zur sel­ben Zeit wurde auch der Text „Intel­li­genz auf dem Weg zur Klassen­macht“ vol­len­det, der von vorn­here­in im Aus­land veröf­fentlicht wer­den musste. Daraufhin wur­den die Woh­nun­gen Kon­rads und des Mitver­fassers Iván Szelényi durch­sucht und abge­hört. Ein beträchtlich­er Teil der Tage­buch-Aufze­ich­nun­gen Kon­ráds wur­den kon­fisziert. Die bei­den Autoren wur­den wegen staats­feindlich­er Het­ze ver­haftet und erhiel­ten eine staat­san­waltliche Ver­war­nung. Im „Gäste­buch“ schreibt Kon­rád: „Nach­dem ich aus der Unter­suchung­shaft ent­lassen wor­den war, ver­suchte ich mich mit Budapest wieder anzufre­un­den. Ich stand an den Roll­trep­pen der Met­ro­sta­tio­nen und schaute den aus der Tiefe Aufteigen­den in die Augen: Wer von Ihnen würde mich nicht ans Mess­er liefern.“

Gewohnheiten, die bleiben

Das Manuskript für den zweit­en Roman war in einem Fach unter der Tis­ch­plat­te ver­steckt, die man hochk­lap­pen kon­nte. Kon­rád erzählt, dass, wenn er zum ersten Mal einen Raum betritt, sein Blick nach Ver­steck­en für Texte sucht. Erst 1977 erschien Kon­rads zweit­er Roman auf Ungarisch, wobei er zuvor auf Deutsch (1975) veröf­fentlicht wor­den war. Nach der Wende erschien der Roman auf Ungarisch in nicht zen­siert­er Fas­sung. Weil er zwis­chen 1978 und 1988 nicht pub­lizieren durfte, reiste Kon­rád durch Wes­teu­ropa, Ameri­ka und Aus­tralien. Das Pub­lika­tionsver­bot wurde erst 1989 aufge­hoben.

Eine Empfehlung wert

Im Gespräch mit Terézia Mora beteuert er, alle seine Büch­er gle­ich hoch zu schätzen. Das „Gäste­buch“ erfüllt aber zweifel­los alle Kri­te­rien für ein Lieblings­buch.

© 2025 kunstundmedien

Theme von Anders NorénHoch ↑