Magazin für Kultur

Monat: Januar 2024

Hitler, Stalin, meine Eltern & Ich

Der langjährige TIMES Chefredak­teur Daniel Finkel­stein beschreibt in diesem berühren­den und aufk­lärerischen Buch die Lei­dens­geschichte sein­er Mut­ter und seines Vaters und deren Großel­tern. Dabei deckt er zahlre­iche zeit­geschichtliche, wenig bekan­nte Details auf. Daniels Mut­ter Mir­jam wurde in Berlin geboren. Ihr Vater Alfred Wiener war der Erste, der erkan­nte, welche Gefahr von Hitler für die Juden aus­ging. Ab 1933 kat­a­l­o­gisierte er die Nazi-Ver­brechen minu­tiös. Er floh mit der Fam­i­lie nach Ams­ter­dam und ver­legte sein Doku­men­ta­tion­szen­trum nach Lon­don. Aber noch vor der Über­sied­lung von Frau und Kindern marschierten die Deutschen in Hol­land ein, prak­tizierten auch hier die Entrech­tung und Ver­fol­gung der jüdis­chstäm­mi­gen Bevölkerung, schick­ten sie schließlich in das KZ Bergen-Belsen. 83 Züge fuhren vom hol­ländis­chen Durch­gangslager West­er­bork in die Todeslager, mehr als 100 000 Men­schen aus Hol­land wur­den dort ermordet. Durch eine wenig bekan­nte Ret­tungsak­tion der pol­nis­chen Lados-Gruppe in Bern gelingt für Finkel­steins Groß­mut­ter und deren Kinder 1945 eine der weni­gen Aus­tauschvere­in­barun­gen zur Flucht über die Schweiz in die USA. Durch das Elend im Lager schw­er erkrankt stirbt die Groß­mut­ter kurz nach dem Aus­tausch.

Daniels Finkel­steins Vater Lud­wik kam im pol­nis­chen Lem­berg als einziges Kind ein­er wohlhaben­den jüdis­chen Fam­i­lie zur Welt. Nach der Aufteilung Polens durch Hitler und Stal­in 1939 wurde die Fam­i­lie von den sow­jetis­chen Sol­dat­en zusam­mengetrieben und zur Zwangsar­beit in einen sibirischen Gulag geschickt. 22.000 pol­nis­che Offiziere wer­den im Früh­jahr 1940 vom sow­jetis­chen Geheim­di­enst erschossen. „Hun­dert­tausende wur­den aus ihren Häusern ver­trieben und zur Zwangsar­beit deportiert, weit­ere Hun­dert­tausende unter erbärm­lichen Bedin­gun­gen inhaftiert. Es ist ein sel­ten erzähltes, häu­fig geleugnetes und selb­st heute noch den meis­ten völ­lig unbekan­ntes Vorkomm­nis.“ (S. 139) Finkel­steins Groß­mut­ter und ihr Sohn Lud­wik mussten unter elen­den Bedin­gun­gen in ein­er Kol­chose arbeit­en und über­lebte die eisi­gen Win­ter in ein­er Hütte aus Kuh­dung. Nach dem Über­fall Hitlers auf die Sow­je­tu­nion 1941 wer­den Finkel­steins Großel­tern und sein Vater aus dem Gulag-Todeslager (in diesen Gulag-Straflagern sind zwis­chen 1929 und 1953 18 Mil­lio­nen Men­schen umgekom­men) und der Zwangsar­beit frei gestellt und erre­ichen über zahlre­iche Umwege nach Palästi­na.
Finkel­stein schließt mit der denkwürdi­gen Zusam­men­fas­sung: „Das Schweigen, das über den sow­jetis­chen Ver­brechen lag, hat­te Fol­gen. Nie fand eine Abrech­nung statt, nie musste jemand Rechen­schaft able­gen. Nie wur­den die Vertreter des Regimes gezwun­gen zu beken­nen, dass ihr Tun schändlich war. Das gab Wladimir Putin die Möglichkeit, seine pri­vate Ver­sion von rus­sis­ch­er und ukrainis­ch­er Geschichte zu ver­fassen, und das wiederum wurde Bestandteil sein­er Recht­fer­ti­gung… für seinen jüng­sten Krieg gegen die Men­schen in der Stadt, aus der mein Vater stammte.“ (S. 455)

Finkel­stein, Daniel: Hitler, Stal­in, meine Eltern & Ich, Hoff­mann und Campe Ver­lag, Ham­burg 2024, 28,00 €, ISBN 978–3‑455–01666‑6

Jeder Stein erzählt von einem Leben

Diese berührend per­sön­liche Recherche ist eine beson­dere Neuer­schei­n­ung. Gle­ichzeit­ig in Großbri­tan­nien und in Deutsch­land erschienen ist es das erste Buch der Autorin, deren Eltern kurz vor dem Weg in die Ver­nich­tung aus Nazi-Deutsch­land auswan­dern kon­nten. Zurück blieben zahlre­iche Ver­wandte und die in Berlin leben­den Großel­tern, die jüdisch-stäm­mig den Weg der stufen­weisen Entrech­tung und Ver­fol­gung gehen mussten, der schließlich im Lager There­sien­stadt endete, wo sie im dor­ti­gen Elend ver­hungerten. Anlass und Zugang zur Fam­i­lien­recherche der Autorin ist eine Stolper­stein-Ver­legung in Berlin („Ich erzäh­le ihm (Gunter Dem­nig, der schon Tausende Stolper­steine ver­legt hat), wie mir sein Pro­jekt geholfen hat, den lange ver­schlosse­nen Schrank mit meinen Ver­lus­ten zu öff­nen“ S. 113). Mit Hil­fe engagiert­er Berlin­er gelingt es der Autorin zum Gedenken ihrer Großel­tern und ein­er weit­eren Ver­wandten auch Stolper­steine zu ver­legen. Die Berlin-Reisen der Autorin, ihre Begeg­nun­gen mit Orten aus der Ver­gan­gen­heit (Geburtshaus ihrer Mut­ter, der Werk­statt ihres Groß­vaters und dem Wohn­haus ihrer Groß­tante, ein soge­nan­ntes Juden­haus, in dem Juden vor ihrer Depor­ta­tion gezwun­gen waren zu leben) machen berührend das Berlin ihrer Großel­tern und ander­er Ver­wandten anschaulich, eine sehr lohnende Lek­türe.

Jack­ie Kohn­stamm: Jed­er Stein erzählt von einem Leben – auf den Spuren mein­er Fam­i­lie. Orig­inalti­tel: The Mem­o­ry Keep­er: A Jour­ney into the Holo­caust to Find My Fam­i­ly“, Lon­don 2023, Limes Ver­lag, München 2023, ISBN: 978–3‑8090–2769‑0, 23 €

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