Magazin für Kultur

Monat: September 2019

Fotografie der Abwesenheit

Wenn wir in einem ver­lasse­nen Zim­mer ste­hen, eine Stereo-Anlage neben dem Bett und ein Poster an der Wand sehen, dann sind das bloße Gegen­stände, die nur auf sich selb­st ver­weisen. Und doch sind es Spuren, die uns vor Augen führen, was den Raum zu einem frem­den Raum macht. Plöt­zlich erken­nen wir die Abwe­sen­heit, die all den Gegen­stän­den um uns herum innewohnt. Der Raum entzieht sich uns, weil er auf einen anderen ver­weist, auf jeman­den, der auf diesem Bett Musik gehört und der dieses Poster ange­bracht hat. Indem jemand diesen Raum bewohnte, hat er ihm einen tran­szen­den­ten Sinn gegeben. Wenn wir nun das Zim­mer vor uns sehen, erschließt sich uns vielle­icht nicht sein Sinn und doch spüren wir die Abwe­sen­heit eines anderen.

Anna Lehmann-Brauns und Julia Rosen­baum

Dieser Abwe­sen­heit nachzus­püren, kön­nte man als lei­t­en­des Motiv der Fotografin Anna Lehmann-Brauns beze­ich­nen. Beim 8. Salon für Kun­st und Kul­tur wurde die Kün­st­lerin vorgestellt. Der Salon find­et vier­mal im Jahr zu unter­schiedlichen The­men statt und wird von der Fotografin Anett Stuth gemein­sam mit der Kun­sthis­torik­erin Julia Rosen­baum ver­anstal­tet. Neben einem Kün­st­lerge­spräch, gab es die Möglichkeit in ein­er Werkschau einen Überblick über die let­zten zwanzig Jahre aus dem Schaf­fen Anna Lehmann-Brauns zu erhal­ten. Die Mod­er­a­tion über­nahm Julia Rosen­baum.

Der Charme des Verfalls

Wenn Anna Lehmann-Brauns davon spricht, was sie immer wieder aufs Neue fasziniert, dann ist es das Herun­tergekommene, Schäbige, was aber den­noch seinen Glanz bewahrt hat. In ihren Fotografien ist genau dieser Bruch zwis­chen der aktuellen Wahrnehmung und einem unbes­timmten Vorher spür­bar. Dieses Vorher scheint das eigentliche Herzstück des Bildes zu sein. Im Vorhinein hat sich eine Geschichte ereignet und Geschicht­en sind es, die die Fotografin mit ihren Bildern verbindet.Ob es der Kün­st­lerin um das aneignen von etwas Frem­den geht?, fragt Julia Rosen­baum. Denn das Fremde scheint in Anna Lehmann-Brauns Fotografien immer anwe­send zu sein. Es sind nicht zulet­zt die Geschicht­en von Frem­den, die sie mit ihrer Fotografie ein­fängt. Außer­dem ist die Fremde für eine Kün­st­lerin rel­e­vant, die sowohl in den USA als auch in Chi­na tätig war. Lehmann-Brauns betont, dass Fotografie für sie ein Mit­tel ist, um sich in der Welt zurechtzufind­en.

Bitterblue

Immer wieder kommt Julia Rosen­baum auf das The­ma der kom­ponierten Räume zu sprechen. Erste Bekan­ntheit erlangte die Kün­st­lerin näm­lich durch die Serie „bit­terblue“, in der sie Mod­elle in Pup­pen­stuben­größe – anfangs noch recht über­laden und zulet­zt ganz schlicht – fotografierte. Sie bilden den Grund­stein für ihre weit­ere Arbeit und ihr Inter­esse an Räu­men. Nach dem Abschluss ihrer Diplo­mar­beit im Jahr 2000 hat sie sich real großen Räu­men zuge­wandt. Mit diesem Ansatz absolvierte sie die Meis­terk­lasse bei Joachim Brohm an der Hochschule für Grafik und Buchkun­st in Leipzig.

Wild Side West

Das Inter­esse für Räume ist zwar geblieben, doch spätestens der 5‑monatige Aufen­thalt in San Fran­cis­co im Jahr 2016 macht die grund­ver­schiedene Arbeitsweise evi­dent. Anna Lehmann-Brauns entsch­ied sich dafür, die lokalen Clubs der LGTB-Szene zu fotografieren. Schon rein zeitlich war es der Kün­st­lerin nicht möglich die Bilder zu arrang­ieren. Notge­drun­gen musste sie mit dem arbeit­en, was sie vor­fand. Inter­es­san­ter­weise bedeutet das für die Kün­st­lerin aber keinen Gegen­satz zur mod­ell­basierten Fotografie. In bei­den Fällen geht es für sie darum, aus dem Chaos, das sich ihr dar­bi­etet, ein „kom­poniertes“ Bild her­auszu­fil­tern. Das Bild fügt sich im Blick der Kün­st­lerin zu einem Arrange­ment zusammen.Und auch dem Betra­chter ihrer Fotografien bieten sich die Räume in diesem Sinne dar. Wenn wir einen Raum betra­cht­en, erschließen sich uns die Dinge in ihrem Uten­sil­ität­skom­plex. Der Fotografin gelingt es, diese tran­szen­dente Struk­tur in ihren Fotografien einz­u­fan­gen.

Letzter Vorhang

Ein anderes Pro­jekt war die Serie „Let­zter Vorhang“, bei der Anna Lehmann-Brauns 2018 ein halbes Jahr lang die Komödie am Kur­fürs­ten­damm fotografierte und damit den Abriss qua­si begleit­ete. Die Kün­st­lerin ist gegenüber vom The­ater geboren und verbindet daher per­sön­liche Erin­nerun­gen damit. Als Betra­chter ist man geneigt, sich eben­falls mit dem The­ater ver­bun­den zu fühlen. Denn die Geschicht­en, die sich vorher dort abge­spielt haben, sind auf den Fotografien beina­he greif­bar.

Titel­bild: © Anna Lehmann-Brauns

100 Jahre Bauhaus — Höhepunkte in Sachsen-Anhalt

Die Eröff­nung des Bauhaus Muse­um Dessau am 8. Sep­tem­ber 2019 ist der Höhep­unkt des Jubiläum­s­jahrs 100 Jahre Bauhaus. Erst­mals ist die Samm­lung der Stiftung Bauhaus Dessau umfassend zu sehen und verbindet das Muse­um als eigen­ständi­ger, zeit­genös­sis­ch­er Ort die Bauhaus­baut­en in Dessau mit dem Stadtzen­trum.

Das Bauhaus Museum Dessau

Im Jahr 2015 hat das Architek­turkollek­tiv adden­da archi­tects aus Barcelona unter 831 Ein­re­ichun­gen den inter­na­tionalen, offe­nen Architek­tur­wet­tbe­werb gewon­nen. Nach ihrem Konzept ist ein trans­par­enten Kor­pus ver­wirk­licht wor­den, der die schwebende Black Box als Ort für die Samm­lung und das Erdgeschoss als Offene Bühne für zeit­genös­sis­che Posi­tio­nen und Wech­se­lausstel­lun­gen umfasst.

Das neue Bauhaus Muse­um © Dr. Jörg Raach

Anre­gend und umfassend präsen­tiert die Ausstel­lung „Utopie und All­t­ag — Ver­suchsstätte Bauhaus. Die Samm­lung“ Architek­turen­twürfe, Gemälde, Fotografien, Möbel, Leucht­en, Tex­tilien, Tape­ten und Schrift­typen. In the­ma­tis­chen Kapiteln zeigt sie, dass das Lehren, Gestal­ten und Bauen am Bauhaus der Verän­derung, Verbesserung und Gestal­tung der Gesellschaft dienen sollte. Anhand von Lehrer-Schüler-Paaren wird beispiel­haft gezeigt, wie wer mit wem konkret zusam­mengear­beit­et hat. So haben Moholy-Nagy mit Mar­i­anne Brandt und Gun­ta Stöl­zl mit Paul Klee sehr eng an gemein­samen Pro­jek­ten zusam­mengear­beit­et.

Wand­be­hang von Gun­ta Stöl­zl © Dr. Jörg Raach

Bauhaus in der DDR

Weniger bekan­nt und in der Ausstel­lung im Teil zur Geschichte der Bauhaus-Rezep­tion inter­es­sant präsen­tiert wird die Wieder­ent­deck­ung des Bauhaus­es in der DDR nach der Ver­fe­mu­ng in der NS-Dik­tatur und der Zeit langer Mis­sach­tung unter der SED-Herrschaft. 145000 Mark für 148 Arbeit­en von Bauhäus­lerin­nen stellte die “Galerie am Sach­sen­platz” in Leipzig der Stadt Dessau am 1. Novem­ber 1976 in Rech­nung. Von Keramik bis Möbel bis zu Feininger- und Klee-Werken, es war eine bunte Mis­chung. Aus­gestellt wur­den diese Objek­te erst­mals im Bauhaus­ge­bäude, das am 4. Dezem­ber 1976 zum 50. Jahrestag des Bauhaus­es als Wis­senschaftlich Kul­turelles Zen­trum in der DDR wieder­eröffnet wurde. Der Ankauf bildete das Fun­da­ment der heute über 49.000 Objek­te zäh­len­den Samm­lung der Stiftung Bauhaus Dessau. Sie ist nach Berlin (wo die über­wiegend auf Gropius zurück­ge­hen­den Bestände ein­er Präsen­ta­tion im erweit­erten Bauhaus-Archiv ab 2023 har­ren!) die weltweit zweit­größte Samm­lung.

Bauhaus-Häuser

Ein Muss beim Besuch Dessaus sind die dort zu sehen­den Bauhaus-Häuser. Die knapp sieben Jahre Dessauer Bauhaus (1925–1932) waren die Hoch­phase der Bauhaus-Architek­tur. Darum befind­en sich die meis­ten Bauhaus­baut­en in Dessau: das Bauhaus- Schul­ge­bäude, die Meis­ter­häuser, die Sied­lung Dessau-Törten, das Korn­haus, Haus Fieger, das Stahlhaus und das Arbeit­samt.

Schulgebäude

Das Bauhaus-Gebäude der Schule wurde 1926 fer­tig gestellt. Ent­wor­fen wurde das Gebäude vom Bauhaus­grün­der Wal­ter Gropius im Auf­trag der Stadt Dessau. Die Pläne ent­standen in seinem pri­vat­en Büro, über eine Architek­turabteilung ver­fügte das Bauhaus erst ab 1927. Die Innenausstat­tung des Gebäudes ent­stand in den Werk­stät­ten der Hochschule. Finanziell unter­stützt wurde das Pro­jekt von der Stadt Dessau, die auch das Grund­stück zur Ver­fü­gung stellte. Heute kön­nen hier bei Führun­gen die restau­ri­erten Werk­stat­träume, die Men­sa, der Fest­saal und das Direk­toren­z­im­mer besichtigt wer­den.

Direk­toren­z­im­mer © Dr. Jörg Raach

Der über­wiegend helle Anstrich des Kom­plex­es bildet einen reizvollen Kon­trast zu den dun­klen Gla­se­in­fas­sun­gen. Im Inneren wird mit unter­schiedlichen Far­ben an tra­gen­den und verklei­den­den Ele­menten die Kon­struk­tion des Baus verdeut­licht. Die Hochschule für Gestal­tung musste 1932 auf Druck der bei Gemein­de­wahlen siegre­ichen Nation­al­sozial­is­ten geschlossen wer­den. Im Krieg trafen Bomben den Kom­plex, die Schä­den repari­erte man zunächst nur not­dürftig. 1972 ist das Gebäude dann unter Denkmalss­chutz gestellt und erst­mals restau­ri­ert wor­den. Eine umfassende Sanierung erfol­gte, nach­dem die UNESCO das Bauhaus­ge­bäude zum Weltkul­turerbe erk­lärt hat­te, sie wurde 2006 abgeschlossen. In rein­sze­nierten Ate­lierz­im­mern des Bauhaus­ge­bäudes kön­nen übri­gens auch Besuch­er über­nacht­en.

Bauhaus­ge­bäude © Dr. Jörg Raach

Meisterhäuser

Par­al­lel zum Bauhaus­ge­bäude wurde Wal­ter Gropius von der Stadt Dessau mit dem Bau von drei bau­gle­ichen Dop­pel­häusern für die Bauhaus­meis­ter und einem Einzel­haus für den Direk­tor beauf­tragt. Errichtet wur­den sie in einem Kiefer­n­wäld­chen in Nähe des Schul­ge­bäudes. Ineinan­der ver­schachtelte, unter­schiedlich hohe kubis­che Kör­p­er geben den Häusern ihre Gestalt. Zur Straße hin wer­den die Dop­pel­häuser von großzügig ver­glas­ten Ate­liers geprägt, an den Seit­en lassen Glas­bän­der Licht in die Trep­pe­naufgänge.

Die Liste der Bewohner­in­nen liest sich wie ein „Who is Who“ der Mod­erne, zu ihnen gehörten neben den drei Direk­toren Wal­ter Gropius, Hannes Mey­er, Lud­wig Mies van der Rohe, Lás­zló Moholy-Nagy und Lyonel Feininger, Georg Muche, Oskar Schlem­mer, Wass­i­ly Kandin­sky und Paul Klee mit ihren Fam­i­lien. Das Direk­toren­haus wurde im Krieg zer­stört, erst vor weni­gen Jahren ist es rekon­stru­iert wor­den, allerd­ings so, dass es als Nach­bau erkennbar bleibt. Gle­ichzeit­ig wurde auch der einzige von Lud­wig Mies van der Rohe in Dessau umge­set­zte Bau wieder­hergestellt. Dabei han­delte es sich um eine Trinkhalle an der Ost­spitze der Sied­lung, die man 1970 abgeris­sen hat­te. Das restliche Ensem­ble der Meis­ter­häuser ist bere­its 1992 umfassend saniert wor­den. Durch seine Far­bigkeit fasziniert beson­ders das ursprünglich von Kandin­sky und Klee bewohnte und malerisch aus­gestal­tete Meis­ter­haus.

Saniertes Meis­ter­haus von Kandin­sky und Klee © Dr. Jörg Raach

Kornhaus

Für die weit­eren Besuche der her­aus­ra­gen­den Bauhaus-Baut­en in Dessau emp­fiehlt sich die Nutzung der Bauhaus-Buslin­ie 10. Der Bus bringt die Besuch­er von den Meis­ter­häusern zum Korn­haus, ein­er Gast­stätte in typ­is­ch­er Bauhaus-Architek­tur mit schö­nen Blick über den Elb­de­ich. Der Name erin­nert an einen his­torischen Getrei­despe­ich­er, der hier bis in die 1870er-Jahre ges­tanden hat­te.

Korn­haus © Dr. Jörg Raach

Das Arbeitsamt und die Siedlung Törten

Der Bauhaus-Bus führt von dort am Gropius-Bau des Dessauer Arbeit­samts (der mit gel­ben Ziegeln verklei­dete Stahlbau ist ein rich­tung­weisendes Beispiel für die funk­tion­al­is­tis­che Architek­tur, kennze­ich­nend ist ein vorge­lagert­er ein­stöck­iger Rund­bau mit gläsernem Shed­dach für den Pub­likumsverkehr) vor­bei in den Süden Dessaus zur Sied­lung Törten. Hier ent­stand 1928 nach Plä­nen Wal­ter Gropius eine Muster­sied­lung mit 314 Häusern, die durch sparsame Bauweise auch Arbeit­ern ein Eigen­heim mit Garten zur Selb­stver­sorgung ermöglichte. Im gle­ich­falls von Gropius ent­wor­fe­nen Kon­sumge­bäude führt eine Ausstel­lung in die Entste­hungs­geschichte der Sied­lung ein. Hier begin­nen auch täglich Führun­gen durch die Sied­lung, in der auch die vom Bauhaus-Direk­tor Hannes Mey­er geplanten fünf Lauben­ganghäuser (90 soge­nan­nte „Volkswoh­nun­gen“, hier ist auch eine Muster­woh­nung zu besichti­gen) und das 1927 fer­tiggestellte Stahlhaus (ein Stahltafel­bau von Georg Muche und Richard Paulick von 1927) zu sehen sind. Noch bis 9. Novem­ber 2019 ist die Freiraum-Ausstel­lung Unsicht­bare Orte in Dessau zu sehen. Sie führt zu Gebäu­den und Plätzen in Dessau, wo Bauhäus­lerin­nen zwis­chen 1925 und 1932 gelebt, gewirkt und gerne ihre Freizeit ver­bracht haben.

Der Einfluss der Bauhausschüler auf das Dessauer Stadtbild

Die Bauhauss­chüler waren in Dessau keine Außen­seit­er. Sie formten das Stadt­bild und prägten das gesellschaftliche Leben (unter anderem auf Bauhaus­festen). Sie gestal­teten Fas­saden und Pavil­lons für Parks, ent­war­fen Wer­be­broschüren und stat­teten Schaufen­ster aus. Mit gut 100 Dessauer Fir­men arbeit­ete das Bauhaus eng zusam­men. Und mit Möbeln und Tex­tilien hielt das Bauhaus auch in das Pri­vatleben viel­er Dessauer Einzug. An dieses nicht mehr Sicht­bare erin­nert diese Freilich­tausstel­lung an 13 im ganzen Stadt­ge­bi­et verteil­ten Bild­bänken, an denen auch über QR-Codes Hörstücke abgerufen wer­den kön­nen.

Ein Höhepunkt: Die Bauhaus-Ausstellung in der Moritzburg in Halle

Der zweite Höhep­unkt in Sach­sen-Anhalt im Jubiläum­s­jahr „100 Jahre Bauhaus“ ist die Ausstel­lung in der Moritzburg Halle: „Bauhaus Meis­ter Mod­erne — Das Come­back“, die vom 29.09.2019 — 12.01.2020 geöffnet ist. Sie vere­int hochkarätige Meis­ter­w­erke aus inter­na­tionalen Samm­lun­gen mit bis­lang sel­ten bzw. noch gar nicht gezeigten Werken aus den Muse­ums­bestän­den. Haupt­teil der Ausstel­lung ist die Rekon­struk­tion der ersten Samm­lung mod­ern­er Kun­st im Kun­st­mu­se­um Moritzburg. Bis zum Jahr 1933 galt diese Samm­lung als eine der führen­den in Deutsch­land für die zeit­genös­sis­che Kun­st – die heutige klas­sis­che Mod­erne. Das hallesche Muse­um wurde damals gle­ich­berechtigt mit der Mod­erne-Samm­lung der Berlin­er Nation­al­ga­lerie im Kro­n­prinzen­palais Unter den Lin­den genan­nt. Auf ein­er Fläche von rund 1.000 qm im 1. Obergeschoss des zen­tralen West­flügels der Moritzburg sind ca. 350 Objek­te der bilden­den und ange­wandten Kun­st zu sehen, die zwis­chen 1908 und 1938 erwor­ben wur­den. In ver­tiefend­en Kabi­net­ten wer­den Gemälde von Lyonel Feininger, Wass­i­ly Kandin­sky, Paul Klee, Georg Muche und Oskar Schlem­mer, jene Maler, die zwis­chen 1919 und 1933 als Meis­ter am Bauhaus in Weimar, Dessau und Berlin lehrten. Unter den aus­gestell­ten Werken befind­en sich zudem Gemälde, Aquarelle und Zeich­nun­gen von Ernst Lud­wig Kirch­n­er, Emil Nolde, Oskar Kokosch­ka, Erich Heck­el, El Lis­sitzky, George Grosz. Zum Teil sind die Lei­h­gaben aus den USA, Europa und Japan erst­mals über­haupt öffentlich zu sehen, zum Teil kehren sie seit den 1970er/80er Jahren erst­mals wieder nach Deutsch­land zurück. Ein­er der Höhep­unk­te der Samm­lungsrekon­struk­tion ist die Wiedervere­ini­gung von 7 der einst 11 Gemälde des Halle-Zyk­lusses von Lyonel Feininger. Zu den 3 Gemälden aus der Muse­umssamm­lung, Rot­er Turm I, Marienkirche mit dem Pfeil und Der Dom in Halle, kom­men hinzu: Am Trödel, Marienkirche I, Rot­er Turm II und Mark­tkirche in Halle. In ein­er attrak­tiv­en Alt­stadtroute lassen sich die his­torischen Per­spek­tiv­en der Feininger-Gemälde via Ste­len­in­fos und Audiowalk mit der heuti­gen Sicht verble­ichen (feininger-halle.de).

Gropius virtuell erleben

Ein beson­deres virtuelles Muse­um­ser­leb­nis bietet die Präsen­ta­tion von Wal­ter Gropius‘ Entwurfs für ein Kul­tur- und Sportzen­trum für Halle, die „Stadtkro­ne“. 1927 nahm Wal­ter Gropius am Architek­tur­wet­tbe­werb der Stadt Halle (Saale) für diese mod­erne „Stadtkro­ne“ teil. Gropius‘ Entwurf wurde mit keinem Preis bedacht. Er war zu visionär und sein­er Zeit voraus. Dieser geplante Baukom­plex wurde nie real­isiert. Dank ein­er Koop­er­a­tion mit dem Stu­di­en­gang Multimedia|VR-Design der Burg Giebichen­stein Kun­sthochschule Halle mith­il­fe mod­ern­er Vir­tu­al-Real­i­ty-Tech­nolo­gie ist erst­mals das Stadtkro­nen-Gelände sowie vor allem das von Wal­ter Gropius ent­wor­fene Kun­st­mu­se­um bege­hbar. In ein­er beein­druck­enden virtuellen Präsen­ta­tion kann Gropius‘ visionär­er Muse­ums­bau mit ein­er Ausstel­lungs­fläche von 3.000 qm durch­schrit­ten wer­den. Im Inneren dieses beispiel­haften Muse­um­spro­jek­tes des Neuen Bauens ent­fal­tet sich die kom­plette Samm­lung der Mod­erne des halleschen Muse­ums, wie sie zum einen bis 1937 bestand und zum anderen mit­tels der orig­i­nalen Werke heute nicht mehr voll­ständig rekon­stru­ier­bar ist. Dafür wur­den nahezu 500 Kunst­werke ges­can­nt, fotografiert und in 3D mod­el­liert sowie in die neuen virtuellen Ausstel­lungsräume inte­gri­ert.

Bauhaus auf Burg Giebichenstein in Halle

Bedeu­tend weit über Halle hin­aus ist die renom­mierte Design- und Kun­sthochschule Burg Giebichen­stein, eine ehe­ma­lige Handw­erk­er­schule, die ab 1915 von Paul Thier­sch nach den Grund­sätzen des Deutschen Werk­bun­des reformiert wurde. Der vom Bauhaus kom­mende Bild­hauer Ger­hard Mar­cks wirk­te hier und schuf die ein­drucksvollen Tier­skulp­turen an der Giebichen­stein­brücke. Für das Neue Bauen sind in Halle weg­weisend: die vom Architek­ten Wal­ter Tuten­berg 1928 errichtete Groß-Garage Süd, sie gehört mit ihren 150 Stellplätzen auf fünf Parkdecks und ihrer damals hochmod­er­nen Aufzugsan­lage zu den ältesten Parkhäusern Deutsch­lands; die Franziskan­erkirche „Zur Heilig­sten Dreieinigkeit“ des Architek­ten Wil­hem Ulrich, eine der ersten Kirchen ohne klas­sis­chen Lang­haus und Kirch­turm, son­dern sech­seck­igem Grun­driss und kup­pelar­tigem Mit­te­lauf­bau.

Bauhaus in Merseburg

Nicht weit von Halle ent­fer­nt bietet die ehe­ma­lige Res­i­den­zs­tadt Merse­burg neben ihrem ein­drucksvollen Schlos­sare­al auch an Neuem Bauen inter­essierten Besuch­ern ein reizvolles Ziel. 2019 wird das Friedrich Zollinger Jahr began­gen. Von 1918 bis 1930 war der Architekt in Merse­burg Stadt­bau­rat und konzip­ierte einen Bebau­ungs­plan für die von Krieg und Woh­nungsnot geze­ich­nete Stadt. Ab 1922 ent­standen unter sein­er Regie zehn neue Stadtvier­tel, die mit Hil­fe sein­er eige­nen­twick­el­ten Bautech­nolo­gie (Schüt­t­be­ton­bauweise und spitz- und rund­bo­gen­för­mige Dachgewölbe aus maschinell vor­pro­duzierten Holzbret­tern) und Beteili­gung der kün­fti­gen Bewohn­er Vor­bild­charak­ter haben. Rundgänge zu den zahlre­ich erhal­te­nen Zollinger-Sied­lun­gen und öffentliche Baut­en wie dem ehe­ma­li­gen Gesund­heit­samt sind über Kul­turhis­torische Muse­um Schloss Merse­burg buch­bar.

Mitternächtliche Begegnung mit dem Golem

Vorhin bekam ich eine SMS: „Tre­f­fen heute um Mit­ter­nacht an der syn­a­goga staro“. Das kam mir komisch vor: “staro” passt doch vom Genus her gar nicht mit “syn­a­goga” zusam­men. Wo soll über­haupt die „Alte Syn­a­goge“ sein?

Auch der Absender war mir unbekan­nt. Die Han­dynum­mer war unter­drückt und es hat­te auch nie­mand einen Gruß hin­ter­lassen. Trotz­dem bildete ich mir ein, zu wis­sen, wer dahin­ter steckt. Das ganze roch mir arg nach Hon­sa, der oft auf solche Ideen kam.

Ich zer­brach mir nicht weit­er den Kopf. Das ehe­ma­lige Juden­vier­tel ist nicht groß, seit­dem es vor 100 Jahren assaniert wurde. Auf dem Weg in die Stadt — mein Hotel liegt ziem­lich weit draußen — las ich aus gegeben­em Anlass im „Golem“ von Gus­tav Meyrink. Um 23 Uhr habe ich im Restau­rant „Sedm konšelů“ in der Žate­cká 10 zu Abend gegessen. Es hat sich zu ein­er Art Tra­di­tion entwick­elt, dass ich immer, wenn ich in Prag bin, dor­thin zum Ente­nessen gehe. Zwar war die gebratene Ente — wie immer, wenn man nicht zur Lunchzeit kam — schon aus, aber es gab genug anderes auf der Speisekarte. Mir ist alles mit Knedlicky recht. Von der Met­ro­sta­tion Staroměst­ská aus ist das Restau­rant gut zu erre­ichen.

Im Restau­rant hat­te ich das ungewisse Gefühl, von jeman­den beobachtet zu wer­den. Ich beachtete es nicht weit­er, doch während ich anschließend die Zate­cká ent­lang gehe, ver­stärkt sich dieser Ein­druck. Gemesse­nen Schrittes laufe ich einige Meter und drehe mich dann ruckar­tig um: Die Straße ist völ­lig leer. Diese Ver­lassen­heit schlägt mir wie etwas Unglück­seliges auf den Magen. Die Dunkel­heit der Nacht liegt auf der Umge­bung, als wolle sie etwas ver­ber­gen. Das mat­te Licht der Straßen­later­nen kommt dage­gen nicht an. Beina­he glaube ich, dort ein Gesicht aus­machen zu kön­nen. Ich stiere in die Dunkel­heit, um etwas zu erken­nen. Da sehe ich, wie sich etwas bewegt. Ein dun­kler Schat­ten, der riesen­haft auf mich zukommt. Mein Atem stockt. Abrupt reiße ich meinen Blick von der Stelle los und set­ze meinen Weg zügig fort. Wohin gehe ich eigentlich? Jet­zt taucht vor mir eine Syn­a­goge auf.

Pinkassy­n­a­goge © Sophia Höff

In diesem schumm­rig gel­ben Licht kann ich sie kaum erken­nen. In den Fen­stern spiegeln sich die Straßen­later­nen wie grim­mige Augen. Kön­nte das die „Alte Syn­o­goge“ sein? Ich ziehe mein Handy aus der Hand­tasche und google hek­tisch nach den Syn­a­gogen in der Josef­sstadt. Es han­delt sich um die Pinkassy­n­a­goge. Rasch über­fliege ich die Beschrei­bung: Die Pinkassy­n­a­goge wurde 1479 von Rab­bi Pinkas als pri­vate Syn­a­goge gegrün­det und im 16. Jahrhun­dert durch Ele­mente im Renais­sances­til erweit­ert…

Diese Syn­a­goge scheint mir nicht alt genug zu sein, als dass man sie „Alte Syn­a­goge“ beze­ich­nen würde. Im Rück­en spüre ich, wie mich etwas behar­rlich belauert. Vom Ein­gang der Pinkassy­n­a­goge aus gehe ich die Široká ger­adeaus weit­er. Links biege ich in die Meiselo­va ein.

Maisel­sy­n­a­goge  © Sophia Höff

Bald fällt mir ein Gebäude auf, das hin­ter Baugerüsten ver­steckt imposant in die Höhe ragt. Den David­stern trägt es selb­st­be­wusst vor sich her. Bei Google lese ich, dass es die Maisel­sy­n­a­goge ist. Sie wurde im 16. Jahrhun­dert durch den wohlhaben­den Banki­er und Bürg­er­meis­ter Mordechai Maisel erbaut.

Auch hier kann ich Hon­sa nir­gends ent­deck­en. Langsam beginne ich daran zu zweifeln, ob er die SMS tat­säch­lich geschrieben hat. Um mich herum gibt es nur Leere und Fin­ster­n­is. An der Straße­necke höre ich etwas über das Pflaster stolpern. Ich zucke zusam­men. Mein Blick erhascht ger­ade noch, wie eine dun­kle Sil­hou­ette hin­ter ein­er Haus­fas­sade ver­schwindet. Anges­pan­nt laufe ich auf die Stelle zu, wo die Gestalt ges­tanden hat, denn irgen­det­was liegt dort auf dem Boden. Instink­tiv greife ich danach: Es ist eine Hand, trock­en, staubig. Sie ist in ein­er grotesken Greifhal­tung erstar­rt. Sie beste­ht aus Lehm. Ver­dutzt blicke ich auf diesen Fremd­kör­p­er, der schw­er in mein­er Hand liegt. Ich wage nicht, ihn auf den Boden fall­en zu lassen, und lege ihn wie ein Klein­od sorgsam dor­thin zurück, wo ich ihn gefun­den habe.

Ohne darauf zu acht­en, wohin ich gehe, finde ich mich unverse­hens auf der Široká wieder und laufe ger­adeaus auf die Vězeňská zu. Ich füh­le mich, als wäre die Gren­ze zwis­chen Traum und Wirk­lichkeit aufgelöst. Einge­hüllt in mattes, schlaftrunk­enes Licht ist alles selt­sam ent­fremdet. Mir ist, als ob ich träume.

Kaf­ka-Denkmal  © Sophia Höff

Da taucht plöt­zlich ein Mann vor mir auf! Wo sich der Kopf befind­en sollte, sitzt neck­isch ein Män­neken. Überdeut­lich prägt sich mir ein, dass ihm eine Hand fehlt. Ich muss an die Lehm­hand denken, die auf dem Boden lag…

“Der Golem!”, schießt es mir durch den Kopf. Er ist das unfer­tige Geschöpf, das von Men­schen­hand aus Lehm geschaf­fen wurde. Es ist wed­er lebendig noch tot. Nur durch geheimnisvolle Formeln kann es belebt wer­den. Ich zwinge mich dazu, ratio­nal zu sein, und sage immer wieder vor mich hin: “Das ist bloß eine Stat­ue!”

Die Spanis­che Syn­a­goge, die neben der Stat­ue ste­ht, beachte ich gar nicht. Sie wurde im 19. Jahrhun­dert an der Stelle erbaut, wo im 11. Jahrhun­dert eine byzan­ti­nis­che Syn­a­goge stand.

Schlafwan­del­nd streife ich weit­er durch die Gassen. Gri­massen glotzen von den Haus­fas­saden herab.

Josef­s­tadt  © Sophia Höff

Von der Vězeňská irre ich zurück auf die Široká und biege in die Meiselo­va nach links ein. Dort tre­ffe ich auf eine andere Syn­a­goge. Google ver­rät mir, dass es die älteste Syn­a­goge Europas ist: Die Alt­neusy­n­a­goge wurde 1275 erbaut. Den Namen trägt sie, weil es zur Zeit ihrer Erbau­ung bere­its eine ältere Syn­a­goge gab und im 16. Jahrhun­dert eine eine neue Syn­a­goge gebaut wurde. Sowohl die Alte Syn­a­goge als auch die Neue Syn­a­goge wur­den im Zuge der Assanierung zer­stört; nur die Alt­neusy­n­a­goge blieb erhal­ten.

Bestürzt lese ich den Satz noch ein­mal: Es gibt keine Alte Syn­a­goge. Stand denn nicht in der SMS, dass wir uns an der Alten Syn­a­goge tre­f­fen? Schla­gar­tig wird mir die tschechis­che Beze­ich­nung der Alt­neusy­n­a­goge bewusst: Staronová syn­a­goga. In der SMS stand, dass wir uns an der syn­a­goga staro… tre­f­fen. Gemeint ist staronová. Hier soll ich ihn tre­f­fen! Aber warum brach die SMS an dieser Stelle ab?

Ich drehe mich suchend um. Da bemerke ich, dass ein Mann direkt hin­ter mir ste­ht. Ich bringe nur einen stum­men Schrei her­vor. Ich kann in der Dunkel­heit das Gesicht nicht erken­nen. Dessen Klei­dung ist alt­modisch und abgewet­zt. Unge­lenk bewegt sich sein Arm nach oben. Wie geban­nt starre ich auf seine Hand. In der Dunkel­heit wirkt sie fahl und grob­schlächtig. Unver­mit­telt greift sie fest an meinen Hals. Entset­zt entwinde ich mich seinem Griff.

Ich renne kopf­los in eine Gasse links von der Alt­neusy­n­a­goge hinein. Es kommt mir vor, als würde ich einen Tun­nel ent­lang laufen, der nur in eine Rich­tung führt.

Josef­s­tadt © Sophia Höff

Wie das Licht die Mot­ten anzieht, stürze ich auf das Haus am Ende der Gasse zu. Jeden Moment fürchte ich, den harten, unbarmherzi­gen Griff an meinem Nack­en zu spüren.

Klausen-Syn­a­goge © Sophia Höff

Ich kann keinen Gedanken fassen. Stattdessen füh­le ich meinen Herz­schlag dröh­nend gegen meine Schläfen pochen. Dieses Pochen kommt mir vor, wie die pras­sel­nden Körn­er ein­er ver­siegen­den San­duhr.

Ich atme hastig und doch bekomme ich kaum Luft. Am Ende der Gasse angekom­men, erkenne ich, dass dort ein Fried­hof ist.

Am Ende des Tun­nels gibt es kein Licht. Der Tor­ein­gang ist ver­schlossen und dahin­ter ist nichts als Dunkel­heit. Mir wird Schwarz vor Augen und ich sinke vor dem Tor­ein­gang des Fried­hofes zusam­men.

Jüdis­ch­er Fried­hof © Sophia Höff

Das Pochen wird lauter. Ich spüre die weichen Pol­ster des Sofas unter mir. Auf dem Couchtisch liegt “Der Golem”. Draußen höre ich jeman­den meinen Namen rufen und gegen das Tür­blatt pochen. Das ist Hon­sa, denke ich. Langsam däm­mert mir, das ich mit ihm verabre­det bin und auf ihn gewartet habe. Ich muss dabei eingeschlafen sein. Es ist erstaunlich, dass sich mir die Josef­sstadt so detail­liert ins Bewusst­sein einge­bran­nt hat.

Zu Besuch bei Prager deutschen Schriftstellern

Die mod­erne Lit­er­atur­wis­senschaft hat für das Werk bes­timmter Autoren die Beze­ich­nung „Prager deutsche Lit­er­atur“ einge­führt. Diesen Autoren ist es gemein­sam, dass sie Ende des 19. Jahrhun­derts in Prag geboren wur­den und größ­ten­teils jüdisch waren.

Sie führten ein Leben in drei Wel­ten: in der tschechis­chen, der deutschen und in der jüdis­chen Kul­tur. Das Zusam­men­tr­e­f­fen dieser Kul­turen ver­lief nicht unbe­d­ingt rei­bungs­los: In Prag lebten mehrheitlich Slawen. Zunehmend unzufrieden mit ihrer unter­ge­ord­neten Posi­tion in der k. u. k. Monar­chie fol­gten viele Tschechen nation­al­is­tis­chen Bewe­gun­gen, die 1848 im Sklawenkongress und im Prager Pfin­gsauf­s­tand mün­de­ten. Für das Zusam­men­leben zwis­chen der slaw­is­chen und der deutschsprachi­gen Bevölkerung ergaben sich daraus Span­nun­gen. Nach­dem die nation­al­is­tis­chen Bestre­bun­gen seit­ens des hab­s­bur­gisch-lothringis­chen Herrscher­haus­es lange Zeit unter­drückt wor­den waren, wurde Böh­men 1871 bes­timmte Rechte zuge­s­tanden. Das führte zu einem ökonomis­chen Auf­schwung, von dem sicher­lich auch jüdis­che Kau­fleute prof­i­tierten. Ver­bun­den mit einem aufkeimenden Anti­semitismus lieferte diese Entwick­lung zusät­zlich­es Kon­flik­t­po­ten­tial. Mit der Inva­sion der Nation­al­sozial­is­ten 1939 nahm die Prager deutsche Lit­er­atur ein abruptes Ende.

Auf der anderen Seite kann die Zeit um die Jahrhun­der­twende als ein Höhep­unkt in der Geschichte ange­se­hen wer­den: Prag flo­ri­erte sowohl ökonomisch als auch kul­turell und stieg zur Welt­metro­pole auf. Das ver­dank­te sie der bürg­er­lichen intellek­tuellen Elite, die sich nicht zulet­zt aus den Prager deutschen Autoren rekru­tierte. Diese kon­nten durch ihre mehrsprachige Erziehung die mul­ti­kul­turelle Atmo­sphäre Prags in beson­der­er Weise erleben. Durch ihre Kreativ­ität verdichteten sie ihre Erfahrun­gen zu großer Lit­er­atur. So haben sie let­ztlich alle drei Kul­turen bere­ichert.

Lassen Sie uns gemein­sam die Geburtshäuser einiger dieser Autoren aufzusuchen, auch wenn die Chance, die Autoren dort anzutr­e­f­fen eher ger­ing ist.

Treffpunkt: Kavárna Arco (12:00 Uhr)

Begin­nen Sie den Stadtrundgang bei der Kavár­na Arco in der Dlážděná 1004/6 Ecke Hybern­ská 1004/16, 110 00 Pra­ha 1.

Zur Hybern­ská gelan­gen Sie, indem Sie am Masaryko­vo nádraží aussteigen und die Havlíčko­va nach Süden gehen, d. h. vom Haup­taus­gang des Bahn­hofs aus nach links. Lei­der ist das Café heute geschlossen.

Kavár­na Arco © Sophia Höff

In diesem Café traf sich regelmäßig der soge­nan­nte „Prager Kreis“, um über Lit­er­atur und Philoso­phie zu debat­tieren. Dazu gehörten u. a. Max Brod und Franz Kaf­ka, die wir später besuchen wer­den. Auch Franz Wer­fel zählt im weit­eren Sinne zum „Prager Kreis“.

Franz Werfel (12:05 Uhr)

*10. Sep­tem­ber 1890 in Prag, Monar­chie Öster­re­ich-Ungarn † 26. August 1945 in Bev­er­ly Hills, Kali­fornien, Vere­inigte Staat­en

Geburtshaus von Franz Wer­fel © Sophia Höff

Unser erster Haus­be­such gilt Franz Wer­fel. Er wurde in der Havlíčko­va 1043/11; 110 00 Pra­ha-Pra­ha 1 geboren. Vom Café Arco aus gehen Sie dieselbe Straße einige Meter zurück. In der Haus­num­mer 1043/11 wurde Franz Wer­fel geboren.

Plakette für Wer­fel © Sophia Höff

Wer­fel kam als Sohn eines wohlhaben­den Hand­schuh­fab­rikan­ten zur Welt. Die Fam­i­lie war jüdisch, doch sein christlich­es Kin­der­mäd­chen und der Besuch der eben­falls christlichen Pri­vatschule der Piaris­ten prägten ihn.
Er war befre­un­det mit Max Brod, der dessen Tal­ent erkan­nte und förderte. 1929 kon­vertierte Wer­fel zum Katholizis­mus, um Alma Mahler heirat­en zu kön­nen. Das stra­pazierte die Fre­und­schaft zu Brod, der selb­st dem Zion­is­mus nah­e­s­tand. Zu Wer­fels Hauptwerken zählt „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ (1933).

Max Brod (12:20 Uhr)

* 27. Mai 1884 in Prag, Monar­chie Öster­re­ich-Ungarn † 20. Dezem­ber 1968 in Tel Aviv, Palästi­na

Max Brod kam nicht weit von Wer­fels Geburtshaus ent­fer­nt zur Welt, näm­lich in der Haš­tal­ská 1031/25, 110 00 Pra­ha-Pra­ha 1.

Geburtshaus von Max Brod © Sophia Höff

Gehen Sie die Havlíčko­va ger­adeaus weit­er und biegen Sie in die näch­ste Quer­straße, die Na Poříčí nach links ein. Diese führt Sie auf den Náměstí Repub­liky. Vom Platz aus biegen Sie nach rechts in die Rev­oluční ein. Laufen Sie ger­adeaus, bis Sie links zur Dlouhá kom­men. Von dort biegen Sie rechts in die Hradeb­ní ein und dann links in die K Haš­talu. Daraufhin laufen Sie direkt auf Brods Geburtshaus in der Haš­tal­ská zu.

Max Brod wurde in eine großbürg­er­liche jüdis­che Fam­i­lie hineinge­boren. Früh kam er mit Lit­er­atur und klas­sis­ch­er Musik in Berührung. Er begann ein Juras­tudi­um an der deutschsprachi­gen Karl-Fer­di­nands-Uni­ver­sität und schloss während­dessen Fre­und­schaft mit seinem Kom­mili­to­nen Franz Kaf­ka. Bere­its 1906 veröf­fentlichte er eine Nov­el­len­samm­lung und baute in den fol­gen­den Jahren sein Renom­mée als Schrift­steller aus.

Er besaß die Urteil­skraft, das lit­er­arische Tal­ent ander­er Autoren zu erken­nen. Sein Erfolg ermöglichte es ihm, deren Kar­riere zu fördern. So ist er auch als Ent­deck­er und Men­tor ver­schieden­er Autoren bedeut­sam. Darüber hin­aus kom­ponierte er selb­st Musik. 1939 emi­gri­erte er nach Palästi­na.

Plakette für Max Brod © Sophia Höff

Franz Kafka (12:40 Uhr)

* 3. Juli 1883 in Prag, Monar­chie Öster­re­ich-Ungarn † 3. Juni 1924 in Klosterneuburg-Kier­ling, Öster­re­ich

Geburtshaus von Franz Kaf­ka © Sophia Höff

Franz Kaf­ka war eng mit Max Brod und Franz Wer­fel befre­un­det. Nach ihm wurde der Platz vor seinem Geburtshaus benan­nt: Náměstí Franze Kafky 24/3, 110 00 Pra­ha-Pra­ha 1. Von Brods Geburtshaus aus laufen Sie die Haš­tal­ská nach links. Anschließend fol­gen Sie der Kozí und der Dlouhá in der sel­ben Rich­tung bis zum Staroměst­ské náměstí. Gehen Sie auf dem Platz gle­ich nach rechts an der Pařížská und der Kirche „Svatého Mikuláše“ vor­bei. Hin­ter der Kirche befind­et sich der Náměstí Franze Kafky.

Plakette für Kaf­ka © Sophia Höff

Kaf­ka entstammt ein­er jüdis­chen Kauf­manns­fam­i­lie. Nach dem Besuch der Deutschen Knaben­schule und dem deutschsprachi­gen Staats­gym­na­si­um imma­trikulierte er sich nach mehreren Fach­wech­seln für Jura an der Karl-Fer­di­nands-Uni­ver­sität. Nach dem Abschluss arbeit­ete er für ver­schiedene Ver­sicherungs­ge­sellschaften.
Sein unverkennbar­er Schreib­stil und seine sur­realen Fan­tasieland­schaften macht­en ihn als Autor welt­berühmt. Die Mehrzahl sein­er Werke wurde jedoch posthum veröf­fentlicht, was teils an seinem selb­stkri­tis­chen Per­fek­tion­is­mus und teils an seinem frühen Tod lag.

Egon Erwin Kisch (12:50 Uhr)

* 29. April 1885 in Prag, Monar­chie Öster­re­ich-Ungarn † 31. März 1948 in Prag, Tschechisch-Slowakische Repub­lik

Egon Erwin Kisch wurde als Egon Kisch in eine jüdis­che Fam­i­lie hineinge­boren. Sein Vater war Tuch­mach­er. In der Melantri­cho­va 475/16 / Kožná 475/1, 110 00 Pra­ha-Pra­ha 1, wo er geboren wurde, befand sich im Erdgeschoss die Tuch­hand­lung des Vaters.

Geburtshaus von Egon Erwin Kisch © Sophia Höff

Gehen Sie zurück zum Staroměst­ské náměstí auf die ent­ge­genge­set­zte Seite des Alt­städter Rathaus­es. Dort biegen Sie in die Melantri­cho­va ein.

Plakette für Kisch © Sophia Höff

Zunächst besuchte Kisch eine Schule im Serviten­kloster zu St. Michael und wech­selte dann auf die Piaris­ten­schule, die auch Franz Wer­fel besucht hat. Als er sein erstes Gedicht veröf­fentlichte, wählte er das Pseu­do­nym Erwin, da es seine Schule ver­bot in der Presse zu pub­lizieren.
Später begann er wie Brod und Kaf­ka an der Karl-Fer­di­nand­suni­ver­sität zu studieren. Allerd­ings besuchte er Vor­lesun­gen zur Geschichte der deutschen Lit­er­atur und zur Geschichte der mit­te­lal­ter­lichen Philoso­phie. Nach Ableis­ten des Mil­itär­di­en­stes arbeit­ete er für das „Prager Tag­blatt“ und dann für die Prager Tageszeitung „Bohemia“. Er lernte Brod, Kaf­ka, und Rilke ken­nen. Sowohl als Jour­nal­ist als auch als bel­letris­tis­ch­er Autor hat er sich einen Namen gemacht.

Rainer Maria Rilke (13:05 Uhr)

* 4. Dezem­ber 1875 in Prag, Monar­chie Öster­re­ich-Ungarn † 29. Dezem­ber 1926 im Sana­to­ri­um Val­mont bei Mon­treux, Schweiz

Rain­er Maria Rilke wurde als René Karl Wil­helm Johann Josef Maria Rilke als Sohn eines Bah­nar­beit­ers und ein­er jüdis­chen Fab­rikan­ten­tochter geboren. Er wuchs in der Jindřišská 889/17, 110 00 Pra­ha 1‑Nové Měs­to auf.

Geburtshaus von Rain­er Maria Rilke © Sophia Höff

Gehen Sie auf der Melantri­cho­va weit­er in Rich­tung des Wen­zel­splatzes. Über­queren Sie Na můstku und laufen Sie auf dem Václavské náměstí bis zur Jindřišská, die sich auf der linken Seite befind­et. An seinem Geburtshaus befind­et sich keine Gedenk­tafel, da die heuti­gen Besitzer das ablehnen.

Stattdessen wurde eine Gedenk­tafel an der ehe­ma­li­gen Piaris­ten-Schule in der Na příkopě 16 ange­bracht.

Plakette für Rilke © Sophia Höff

Rilkes Mut­ter ver­suchte den Tod sein­er älteren Schwest­er zu kom­pen­sieren, indem sie ihn während sein­er ersten Leben­s­jahre wie ein Mäd­chen auf­zog. René bedeutet „der Wiederge­borene“. Anfangs besuchte er wie andere Vertreter der Prager deutschen Lit­er­atur die Piaris­ten-Schule. Sein Vater, der gerne eine mil­itärische Kar­riere ver­fol­gt hätte, schick­te den Sohn mit zehn Jahren an eine Mil­itär­re­alschule in Öster­re­ich. Sechs Jahre später musste Rilke die mil­itärische Aus­bil­dung gesund­heits­be­d­ingt aufgeben. Eben­so scheit­erte der Ver­such an ein­er Han­del­sakademie einen Abschluss zu erwer­ben, dies­mal wegen ein­er ver­bote­nen Liai­son. Daraufhin nahm Rilke in Prag Pri­vatun­ter­richt und legte sein Abitur ab. Anschließend studierte er in München Jura.
In seinen Gedicht­en erre­ichte er eine ein­ma­lige Aus­druck­skraft. Daneben ver­fasste er auch den Roman „Die Aufze­ich­nun­gen des Malte Lau­rids Brigge“ (1910).

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