Magazin für Kultur

Monat: August 2024

All die gestohlenen Erinnerungen

Gaelle Nohant

Dieser tief bewe­gende Roman geht auf „die tat­säch­liche Geschichte der Arolsen Archives“ (Danksa­gung S. 427) und Gespräche der Autorin mit zahlre­ichen Nach­fahren von Opfern der NS-Herrschaft zurück. Das auch als Inter­na­tion­al Trac­ing Ser­vice (ITS) bekan­nte Archiv in Bad Arolsen, ein­er Stadt die von einem Fürsten geprägt war, der als SS-Gen­er­al zum Mit­täter im NS-Sys­tem wurde. Die Doku­menten­samm­lung in Arolsen wurde von den Alli­ierten gegrün­det, kam unter die Träger­schaft des Inter­na­tionalen Roten Kreuzes und wurde erst 2012 unter deutsch­er Träger­schaft geöffnet. Sie ist mit Hin­weisen zu rund 17,5 Mil­lio­nen Men­schen die umfassend­ste Samm­lung zu den ver­schiede­nen Opfer­grup­pen des NS-Regimes und gehört seit Juni 2013 zum UNESCO-Welt­doku­mentenerbe. Der Roman ver­mit­telt das erschüt­ternde Schick­sal aus­gewählter Opfer­grup­pen, informiert auch über weniger bekan­nte Ver­brechen der NS-Täter. So die Ver­schlep­pung von 200.000 Kindern aus Osteu­ropa zur Zwangsadop­tion und Zwangsar­beit. Die Schreck­en des KZ Tre­blin­ka, der Auf­s­tand dort und die Ver­nich­tung aller Spuren, und des Frauenkonzen­tra­tionslagers Ravens­brück, die ärztlichen Folter­ex­per­i­mente dort, selb­st die Verge­wal­ti­gun­gen beim Ein­tr­e­f­fen der rus­sis­chen Trup­pen dort, sind The­ma dieses her­aus­ra­gen­den Romans, der in Frankre­ich mit einem der renom­miertesten Lit­er­atur­preise aus­geze­ich­net wurde.

Gaelle Nohant: All die gestohle­nen Erin­nerun­gen, 432 Seit­en, Piper Ver­lag, München 2024, ISBN: ‚24 €

Zeit- und Exilgeschichte

Das Schick­sal der Geschwis­ter Old­en

Diese faszinierende Biogra­phie der Geschwis­ter Old­en ste­ht für zahlre­iche andere Schick­sale von bedeu­ten­den Intellek­tuellen, die von der NS-Herrschaft in ein immer neu bedro­ht­es Exilleben ver­trieben wur­den. „Die in ihren per­sön­lichen und poli­tis­chen Anschau­un­gen eng, wenn auch wider­sprüch­lich zueinan­der ste­hen­den Geschwis­ter repräsen­tieren auf außeror­dentliche Weise die europäis­che und amerikanis­che Zeit- und Exilgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhun­derts.“ (S. 7) So beschreibt der Autor im Vor­wort sein Buch tre­f­fend. Grund­lage dieses Werks waren umfan­gre­iche Archivrecherchen. Biographis­ches verbindet sich mit oft nur wenig bekan­nten zeit­geschichtlichen Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen. So wer­den die Kolo­nialver­brechen in Afri­ka und Südameri­ka genau­so beschrieben wie die zahlre­ichen Ent­führun­gen und Auf­tragsmorde der Gestapo im Aus­land (u.a. in der Schweiz und Lon­don 1935). Auch eine inter­es­sante zeit­geschichtliche Facette stellt das Ver­hält­nis Mus­soli­n­is zu Stal­in dar, schon 1933 kam es zu einem Fre­und­schaftsabkom­men zwis­chen den bei­den Dik­ta­toren. Die ital­ienis­chen Faschis­ten bom­bardierten Spanien im Bürg­erkrieg schon vor Guer­ni­ca 1937. Auch ver­mit­telt der Autor bish­er wenig Bekan­ntes zum Wirken des US-Amerikan­ers Var­i­an Fry, dem es unter ständi­ger Bedro­hung gelang, 3000 hochge­fährdete Intellek­tuelle vor dem tödlichen Zugriff der Gestapo und der Vichy-Polizei in Frankre­ich zu ret­ten.

Die Old­en Geschwis­ter kom­men aus ein­er gut­si­tu­ierten und weit verzweigten jüdis­chen Fam­i­lie. Bekan­nt waren sie mit zahlre­ichen Promi­nen­ten aus Kul­tur, Poli­tik und Pub­lizis­tik. Als promi­nente Hit­lergeg­n­er waren die drei Geschwis­ter Old­en gezwun­gen, sofort nach dem Mach­tantritt der Nation­al­sozial­is­ten ins Exil zu gehen.
Balder Old­en (1882–1949), vor 1933 viel­ge­le­sen­er Schrift­steller, ist in den Jahren des Exils in der Tsche­choslowakei, Frankre­ich, Argen­tinien und Uruguay mit fast allen bedeu­ten­den Emi­granten in Europa und Ameri­ka ver­bun­den.
Sein jün­ger­er Brud­er Rudolf Old­en (1885–1940), als freisin­niger Jour­nal­ist und Jurist ein entsch­ieden­er Geg­n­er des aufk­om­menden NS, hat 1931 die Vertei­di­gung von Carl von Ossi­et­zky über­nom­men. Im britis­chen Exil ver­fasst er scharf­sin­nige Analy­sen zur inter­na­tionalen Poli­tik und wid­met sich zahllosen Ret­tungsak­tio­nen von poli­tisch Ver­fol­gten. Er kommt ums Leben, als das Schiff, das ihn nach Kana­da brin­gen sollte, von einem deutschen U‑Boot versenkt wird.

Poeschel, Thomas: Boheme, Revolte und Exil — Die Odyssee der Geschwis­ter Old­en, 382 S., 42 z.T. farb. Abb., geb., Wall­stein Ver­lag, Göt­tin­gen 2024, ISBN 978–3‑8353–5624‑5, 25 €

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