Magazin für Kultur

Kategorie: Biographie

Dagny Juel

Das tragis­che Leben ein­er nor­wegis­chen Dich­terin

Dieses bewe­gende, ein­fühlsam geschriebene Lebens­bild ein­er in Deutsch­land völ­lig unbekan­nten nor­wegis­chen Dich­terin Dag­ny Juel ist zugle­ich ein sehr reizvoller Recherchebericht. Kristin Val­la ist auf den Spuren Juels gereist, schildert ihre Zeit in Berlin, Krakau, Warschau und Tiflis. Bohemi­enne, Femme fatale, ero­tis­che Ikone: Um Dag­ny Juel und ihr bewegtes Leben ranken sich bis heute Leg­en­den und Geheimnisse. Als Musik­erin ging sie 1892 nach Berlin, lebte hier fünf Jahre und wurde zum Mit­telpunkt eines Kün­stler- und Lit­er­atenkreis­es. Zu ihren eng­sten Ver­traut­en zählen Edvard Munch, dessen Muse sie wird, Richard Dehmel und August Strind­berg. Zahlre­iche Män­ner sind von ihrer Schön­heit hin­geris­sen und ver­lieben sich in sie. Im Jahr 1893 heiratet sie den pol­nis­chen Schrift­steller Stanisław Przy­byszews­ki, sie bekom­men zwei Kinder – doch glück­lich ist die Ehe nicht, Przy­byszews­ki ver­fällt dem Alko­hol. Im Alter von 33 Jahren wird Juel von einem pol­nis­chen Verehrer in einem Hotelz­im­mer in Tiflis erschossen.

Kristin Val­la: Die Schüsse von Tiflis – Auf den Spuren der Kün­st­lerin Dag­ny Juel, 256 S., 21 Abb., geb., Schutzum­schlag,
ISBN 978–3‑8353–7593‑2, Wei­dle im Wall­stein Ver­lag, Göt­tin­gen 2025, 24 €

Biographie des Chemikers Arthur Eichengrün

Biogra­phie-Recherche Biogra­phie ist Ergeb­nis ein­er aufwändi­gen Recherche. Nachkom­men Eichen­grüns in Deutsch­land, Spanien, Namib­ia, Hol­land und Israel wur­den befragt und die Entwick­lung der Chemie in der Wis­senschafts- und Indus­triegeschichte nachgeze­ich­net (von der Entwick­lung von Far­ben und Film­ma­te­r­i­al aus Teer zur Arzneimit­tel­her­stel­lung bis zur der vielfälti­gen Kun­st­stoff­pro­duk­tion). In drei Jahrzehn­ten Recherche rekon­stru­iert der Autor Chaussy Eichen­grüns Biografie und ent­deckt einen der bedeu­tend­sten Chemik­er und Erfind­er der Kaiserzeit und der Weimar­er Repub­lik wieder: Eichen­grün ist Forsch­er, Erfind­er und Unternehmer in Per­son­alu­nion. Er syn­thetisiert Kokain, erfind­et das weltweit meist­genutzte Antigon­or­rhoicum Pro­tar­gol. Und wir ver­danken ihm die Entwick­lung des erfol­gre­ich­sten Medika­ments der Phar­maziegeschichte, dem Aspirin. Er erfind­et den unbrennbaren Kinofilm, biegsame Schallplat­ten, rev­o­lu­tion­iert mit seinem Cel­lon-Spannlack den Bau der stoff­be­span­nten Flugzeuge und Zep­pe­line.

Ab 1933 gel­ten all seine Ver­di­en­ste nichts mehr.  Er ver­liert seine Fir­ma, allen Besitz und wird aus der Geschichte her­aus­geschrieben. Plöt­zlich ist der assim­i­lierte Patri­ot Eichen­grün für Anti­semiten von Her­mann Göring, mit dem er in Berlin sieben Jahre unter einem Dach lebt, bis zum kle­in­sten Räd­chen des Nazi-Appa­rates nur noch eines: Jude. Er wird im Mai 1944 ins KZ There­sien­stadt deportiert, dort allerd­ings in einen Bere­ich unterge­bracht, in dem 200 von 28.000 Häftlin­gen ein eigenes Zim­mer zugewiesen wurde. Eichen­grün über­lebt das KZ. An sein früheres Leben und seine Erfolge kann er nicht mehr anknüpfen. Chaussy nimmt den Leser mit auf seine Recherchen und ver­wen­det dafür eine reizvolle Form: „…habe ich mir die Frei­heit genom­men, Eichen­grün in von mir imag­inierten Schall­folien­botschaften zu Wort kom­men zu lassen und mir als Autor in die Parade zu fahren – fik­tionales Mit­tel zur Infragestel­lung der Per­spek­tive des Autors.“ (S. 339).

Chaussy, Ulrich: Arthur Eichen­grün – Der Mann, der alles erfind­en kon­nte, nur nicht sich selb­st, 368 Seit­en, gebun­den mit Schutzum­schlag, Herder Ver­lag, Freiburg/Basel/Wien, 2023, 26 €, ISBN: 978–3‑451–39216‑0

Hitler, Stalin, meine Eltern & Ich

Der langjährige TIMES Chefredak­teur Daniel Finkel­stein beschreibt in diesem berühren­den und aufk­lärerischen Buch die Lei­dens­geschichte sein­er Mut­ter und seines Vaters und deren Großel­tern. Dabei deckt er zahlre­iche zeit­geschichtliche, wenig bekan­nte Details auf. Daniels Mut­ter Mir­jam wurde in Berlin geboren. Ihr Vater Alfred Wiener war der Erste, der erkan­nte, welche Gefahr von Hitler für die Juden aus­ging. Ab 1933 kat­a­l­o­gisierte er die Nazi-Ver­brechen minu­tiös. Er floh mit der Fam­i­lie nach Ams­ter­dam und ver­legte sein Doku­men­ta­tion­szen­trum nach Lon­don. Aber noch vor der Über­sied­lung von Frau und Kindern marschierten die Deutschen in Hol­land ein, prak­tizierten auch hier die Entrech­tung und Ver­fol­gung der jüdis­chstäm­mi­gen Bevölkerung, schick­ten sie schließlich in das KZ Bergen-Belsen. 83 Züge fuhren vom hol­ländis­chen Durch­gangslager West­er­bork in die Todeslager, mehr als 100 000 Men­schen aus Hol­land wur­den dort ermordet. Durch eine wenig bekan­nte Ret­tungsak­tion der pol­nis­chen Lados-Gruppe in Bern gelingt für Finkel­steins Groß­mut­ter und deren Kinder 1945 eine der weni­gen Aus­tauschvere­in­barun­gen zur Flucht über die Schweiz in die USA. Durch das Elend im Lager schw­er erkrankt stirbt die Groß­mut­ter kurz nach dem Aus­tausch.

Daniels Finkel­steins Vater Lud­wik kam im pol­nis­chen Lem­berg als einziges Kind ein­er wohlhaben­den jüdis­chen Fam­i­lie zur Welt. Nach der Aufteilung Polens durch Hitler und Stal­in 1939 wurde die Fam­i­lie von den sow­jetis­chen Sol­dat­en zusam­mengetrieben und zur Zwangsar­beit in einen sibirischen Gulag geschickt. 22.000 pol­nis­che Offiziere wer­den im Früh­jahr 1940 vom sow­jetis­chen Geheim­di­enst erschossen. „Hun­dert­tausende wur­den aus ihren Häusern ver­trieben und zur Zwangsar­beit deportiert, weit­ere Hun­dert­tausende unter erbärm­lichen Bedin­gun­gen inhaftiert. Es ist ein sel­ten erzähltes, häu­fig geleugnetes und selb­st heute noch den meis­ten völ­lig unbekan­ntes Vorkomm­nis.“ (S. 139) Finkel­steins Groß­mut­ter und ihr Sohn Lud­wik mussten unter elen­den Bedin­gun­gen in ein­er Kol­chose arbeit­en und über­lebte die eisi­gen Win­ter in ein­er Hütte aus Kuh­dung. Nach dem Über­fall Hitlers auf die Sow­je­tu­nion 1941 wer­den Finkel­steins Großel­tern und sein Vater aus dem Gulag-Todeslager (in diesen Gulag-Straflagern sind zwis­chen 1929 und 1953 18 Mil­lio­nen Men­schen umgekom­men) und der Zwangsar­beit frei gestellt und erre­ichen über zahlre­iche Umwege nach Palästi­na.
Finkel­stein schließt mit der denkwürdi­gen Zusam­men­fas­sung: „Das Schweigen, das über den sow­jetis­chen Ver­brechen lag, hat­te Fol­gen. Nie fand eine Abrech­nung statt, nie musste jemand Rechen­schaft able­gen. Nie wur­den die Vertreter des Regimes gezwun­gen zu beken­nen, dass ihr Tun schändlich war. Das gab Wladimir Putin die Möglichkeit, seine pri­vate Ver­sion von rus­sis­ch­er und ukrainis­ch­er Geschichte zu ver­fassen, und das wiederum wurde Bestandteil sein­er Recht­fer­ti­gung… für seinen jüng­sten Krieg gegen die Men­schen in der Stadt, aus der mein Vater stammte.“ (S. 455)

Finkel­stein, Daniel: Hitler, Stal­in, meine Eltern & Ich, Hoff­mann und Campe Ver­lag, Ham­burg 2024, 28,00 €, ISBN 978–3‑455–01666‑6

Im Schatten meines Großvaters

Dieses sehr per­sön­lich geschriebene, faszinierende Buch macht anschaulich wie famil­iäre Ver­gan­gen­heit gen­er­a­tionsüber­greifende psy­chis­che Auswirkun­gen haben kann, wie unver­ar­beit­ete Gefüh­le weit­ergegeben wer­den, Schuld und Scham aufgear­beit­et wer­den müssen, um sich befreiend auszuwirken. Als die in Eng­land geborene Autorin, Tochter ein­er Deutschen und eines Englän­ders, den Namen ihres Groß­vaters, des Wehrma­chts­gen­er­als Karl von Graf­fen, zum ersten Mal googelte, tauchte ein Foto auf, wie er im Mai 1945 vor den Amerikan­ern kapit­uliert. Angela Find­lay wurde zur Detek­tivin, sprach mit Fam­i­lien­mit­gliedern und mit Frem­den, um sich ein immer detail­liert­eres Bild nicht nur von ihrer deutschen Fam­i­lie, son­dern auch vom Deutsch­land der 1930er- und 1940er-Jahre und darüber hin­aus zu machen. Ein großer Teil ihrer Recherchen umfasste Reisen zu den Stät­ten des Wirkens ihres Groß­vaters in Deutsch­land, Rus­s­land und Ital­ien. Durch die Arbeit an diesem Buch, ihren zahlre­ichen Vorträ­gen zu den Trau­ma­ta nicht ver­ar­beit­eter Ver­gan­gen­heit hat die Autorin sich stufen­weise von ihren wieder kehren­den psy­chis­chen Prob­le­men befre­it und ver­mit­telt ein­dringlich den Lesern in Großbri­tan­nien und jet­zt auch in Deutsch­land Ein­blicke in psy­cho­so­ma­tis­che Prozesse der Ver­ar­beitung von Lei­den.

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