Magazin für Kultur

Autor: Sophia Höff (Seite 1 von 2)

Das Abenteuer des großen Meaulnes

Der Roman “Der große Meaulnes” von Hen­ri Alain-Fournier erzählt von der Sehn­sucht nach einem “ver­lore­nen Land”, in dem sich erfüllen würde, was der Titel­held, Augustin Meaulnes, am meis­ten begehrt.

Erzählt wird die Geschichte von Meaulnes’ bestem Fre­und, dem anfangs 15-jähri­gen François Seurel. Gemein­sam gehen sie auf eine von Seurels Eltern geleit­ete Schule in der fik­tiv­en Kle­in­stadt Sainte-Agathe, in der zen­tral­franzö­sis­chen Sologne. Meaulnes kam neu in die Klasse, gibt jedoch schnell den Ton an und wird von allen nur “der große Meaulnes” genan­nt. Die von Wäldern und Seen geprägte Land­schaft der Sologne nährt die Aben­teuer­lust der Jugendlichen. Die Klassenkam­er­aden von Seurel und Meaulnes touren mit dem Fahrrad über die Land­straße oder schle­ichen sich hin­aus in den Wald, um Grün­spechtnester auszuheben. Doch keines dieser Aben­teuer kommt an das her­an, das der große Meaulnes erlebt hat:

Meaulnes’ Aben­teuer ereignete sich in jen­em “ver­lore­nen Land”, das for­t­an zum Kristalli­sa­tion­spunkt all sein­er Wün­sche und Bestre­bun­gen wird. Eines Nachts fand er sich nach einem miss­lun­genen Stre­ich an einem namen­losen Schloss wieder, ohne zu wis­sen, wie er dor­thin gelangt war. Ehe er sich’s ver­sah, war er Gast eines wun­der­samen Kostüm­festes. Sog­ar ein Kostüm lag für ihn bere­it. Es war ein Ort der Ein­tra­cht und der Abgeschieden­heit, an dem Fremde sich als Fre­unde begeg­neten und die Welt um sich herum ver­gaßen: “Unter diesen Tis­chgenossen war nie­mand, in dessen Gegen­wart sich Meaulnes nicht wohl gefühlt und dem er nicht ver­traut hätte.” (82) Die Begeg­nung mit einem schö­nen Mäd­chen namens Yvonne de Galais, der Tochter des Schlossh­er­rn, wird für Meaulnes zu ein­er Offen­barung des Glücks. Obwohl dieses Glück zum Greifen nahe schien, entzieht es sich ihm doch und es bleibt nur eine Erin­nerung: “Mit welch­er Erre­gung dachte Meaulnes später an die Minute, in der am Ufer des Teich­es das seit­dem ver­loren gegan­gene Gesicht des Mäd­chens dem seinen so nahe gewe­sen war!” (93f.)

Abrupt ist das Fest zu Ende und Meaulnes zurück in Sainte-Agathe. Zwis­chen Wehmut nach dem Ver­lore­nen und Sehn­sucht nach Erfül­lung ver­sucht Meaulnes das ver­wun­sch­ene Schloss und die junge Schlossh­er­rin wiederzufind­en. Doch das “ver­lorene Land” ist auf kein­er Karte eingeze­ich­net. Es ist schließlich sein Schul­fre­und Seurel, der Meaulnes eine Möglichkeit eröffnet, an die er nicht mehr zu glauben gewagt hat. Doch kann das Glück, das ein­mal möglich zu sein schien, Wirk­lichkeit wer­den, nach­dem es bere­its ver­loren war? Meaulnes fühlt die Dis­tanz, die ihn von sein­er Ver­gan­gen­heit tren­nt: “Aber inzwis­chen bin ich überzeugt, dass ich, als ich das namen­lose Schloss ent­deck­te, in einem Zus­tand solch­er Vol­lkom­men­heit und Rein­heit war, wie ich ihn nie mehr erre­ichen werde.” (222) Klar ist, dass das Aben­teuer, in das Meaulnes hineinger­at­en war, längst nicht zu Ende ist. Das “ver­lorene Land” wartet darauf, in der Zukun­ft wieder­ent­deckt zu wer­den.

Hen­ri Alain-Fournier: Der große Meaulnes, Thiele Ver­lag 2014, ISBN: 978–3‑85179–317‑8.

Über die Möglichkeit, sich selbst zu überleben

Wie oft stirbt ein Men­sch im Laufe seines Lebens? Und was ist nötig, damit er sich selb­st über­lebt? Diese Fra­gen the­ma­tisiert die pol­nis­che Lit­er­aturnobel­preisträgerin Olga Tokar­czuk in ihrem Roman “Anna In”.

Die Stadt, in der die Geschichte spielt, ist auf Ruinen erbaut, darunter liegen die Katakomben. Das sind zwei Wel­ten: Die Stadt ist die Welt der Leben­den und die Katakomben die Welt der Toten und der Dämo­nen. Um die Katakomben zu betreten, muss man ein ehernes Tor passieren. Ein­lass wird nur den­jeni­gen gewährt, die zum Tode bes­timmt sind. Doch stärk­er als durch die räum­liche Tren­nung, die durch das Tor versinnbildlicht wird, sind die bei­den Wel­ten durch ein unum­stößlich­es Gesetz voneinan­der getren­nt: Wer die Katakomben betritt, kehrt nicht mehr in die Stadt zurück. 

Eine Reise an die Grenzen des Seins

Zu Beginn des Romans ler­nen wir die Titel­heldin Anna In ken­nen, sie ist eine Göt­tin der Liebe und des Krieges und herrscht über die Stadt. Doch erzählt wird die Geschichte nicht von ihr, son­dern von ein­er Vielzahl ander­er Stim­men. Eine von ihnen ist Nina Šubur, die sich als “Ich-Jede” vorstellt, ein gewöhn­lich­er Men­sch. Sie ist eng mit Anna In befre­un­det. Gemein­sam brechen sie zu ein­er Reise auf, doch Anna In weigert sich, das Reiseziel zu ver­rat­en. So fol­gen sie den weit verzweigten met­al­lenen Pfeil­ern, auf denen die Stadt errichtet ist, und die die unter­schiedlichen Ebe­nen der Stadt zusam­men­hal­ten. Aufzüge und Trep­pen­spi­ralen verbinden die Stadt­teile miteinan­der. Es gibt auch Rikschas, von stum­men Rikscha-Fahrern betrieben, die auf den Fahrsteigen dahin­ja­gen und rasch von Ebene zu Ebene sprin­gen kön­nen. Doch Anna In und ihre Fre­undin fol­gen dem labyrinthar­ti­gen Aufzugsys­tem. Mit ein­er Karte und einem Kom­pass aus­gerüstet, steigen sie in Aufzüge ein und wer­den ander­swo wieder aus­ge­spi­en, nur um bald in den näch­sten Aufzug umzusteigen. Über kurz oder lang stellt sich her­aus, wohin es Anna In zieht, näm­lich zu den Katakomben. Als sie am ehernen Tor zum Toten­re­ich ange­langt sind, berichtet Anna In, dass ihre Zwill­ingss­chwest­er, die Herrscherin des Toten­re­ichs, sie gerufen hat. Anna In hat die lei­d­volle Klage ihrer Schwest­er in ihrem Innern ver­nom­men: “Seit Tagen höre sie ihre Stimme, vielfach zurück­ge­wor­fen vom met­al­lenen Skelett der Stadt, wider­hal­lend in den Labyrinthen ihrer Ohren, der Ham­mer auf dem Amboss tönend wie eine Glocke.” (34) Es ist ein Rufen, dem sich Anna In nicht erwehren kann. Es ist der Ruf ihrer Schwest­er, der in ihr wider­hallt. Die Schwest­ern sind vere­int als Stimme und Res­o­nanzkör­p­er. Nina Šubur leuchtet diese beson­dere Verbindung ein: “Schwest­ern müssen schließlich eine Verbindung spüren, müssen sich ver­ste­hen […].” (35) Und so fol­gt Anna In dem Ruf ihrer Schwest­er und ver­schafft sich gebi­eter­isch Zugang zu den Katakomben.

Zwischen Kühnheit und Leichtsinn

Die Kühn­heit, mit der Anna In Ein­lass zum Toten­re­ich fordert, verblüfft nicht nur den Tor­wächter. “Weißt du auch, was du da tust?”, fragt dieser, nach­dem er sie ein­ge­lassen hat, und wird für einen kurzen Moment von dem Drang über­man­nt, “dieses leichtsin­nige junge Ding zu pack­en und wieder vor die Tür zu befördern” (41). Anna In hat das Toten­re­ich betreten, ohne zum Tode bes­timmt zu sein. Über die Kon­se­quen­zen ihres Han­delns scheint sie sich keine Gedanken zu machen. Der Tor­wächter fragt sich stumm: “Weiß sie, welche Strafe sie dafür erwartet? Es gibt keinen Weg zurück, sie ist so gut wie tot, das dumme Ding.” (47) Nimmt Anna In den Tod wil­lentlich in Kauf, um ihrer Schwest­er zu helfen? Diese Frage wird nicht ein­deutig beant­wortet. Es liegt aber nahe, dass sie sich eine solche Frage gar nicht gestellt hat. Es war das Näch­stliegende, der Schwest­er Bei­s­tand zu leis­ten; eine Verpflich­tung, die sie übern­immt, ohne darüber nachzu­denken. Dies wird ihr jedoch zum Ver­häng­nis.

Die Ein-Person-Rettungsaktion

Als Anna In nach drei Tagen nicht aus den Katakomben zurück­gekehrt ist, startet ihre Fre­undin Nina Šubur, die vor dem ehernen Tor gewartet hat, eine Ein-Per­son-Ret­tungsak­tion. Ihre Verzwei­flung wächst mit jedem Anlauf­punkt, den sie ans­teuert, und mit jedem Bittge­such, das abgelehnt wird. Sie wird bei Anna Ins Lieb­habern, Friseuren und Köchen vorstel­lig, ohne Hil­fe zu erhal­ten. Selb­st Anna Ins drei Göt­ter­väter weisen sie ab. Ein­er der Väter urteilt hart: “Sie aber, Anna In, ist nicht in der Lage sich anzu­passen. Sie ist asozial, agöt­tlich. Eine Diebin und Trinkerin. […] Eine Krawall­macherin.” (69) Am Ende beruft sich der Vater auf das Gesetz, das die Leben­den und die Toten voneinan­der schei­det: Nie­mand kann von den Katakomben in die Stadt zurück­kehren. “Ich kann sie nicht über das Gesetz stellen.” (69) Dieses Gesetz gle­icht der Schöp­fung­sor­d­nung: Was einen Anfang hat, muss auch ein Ende haben; was lebt, muss ein­mal ster­ben. Die Rück­kehr der Toten zu den Leben­den ist in der Schöp­fung­sor­d­nung nicht vorge­se­hen. Man kann dem Vater zugeste­hen, dass die Geset­zmäßigkeit­en der Schöp­fung nicht zur Dis­po­si­tion ste­hen.

Hier stellt sich die Frage, was die Fam­i­lie von Anna In zusam­men­schweißt. Ist es das Gesetz? Für Anna In selb­st spielte das Gesetz keine Rolle, als sie zu ihrer Schwest­er ins Toten­re­ich eilte. Das mag als unbeson­nen gel­ten: “Alles, was sie tut”, sagt ein ander­er der Göt­ter­väter, “tut sie unbeson­nen.” (61) Aber es ist auch ein Hin­weis darauf, dass es nicht das Gesetz ist, das die Schwest­ern miteinan­der verbindet. Vielmehr spürt Anna In eine intu­itive, unre­flek­tierte Verpflich­tung, der Schwest­er zu helfen. Eine Verpflich­tung, die das Gesetz mis­sachtet.

Eine neue Ordnung

Am Ende des Romans wird nicht das Gesetz das let­zte Wort haben. Stattdessen wird ein anderes Wort wichtig wer­den: Mitleid. Aus Mitleid wer­den manche der Pro­tag­o­nis­ten den Tod auf sich nehmen und aus Mitleid wird ihnen ein neues Leben geschenkt wer­den. In Tokar­czuks Roman stirbt ein Men­sch im Laufe seines Lebens mitunter viele Male. Was es möglich macht, dass er sich selb­st über­lebt, ist die Sol­i­dar­ität mit Wegge­fährten, die in ihrem Han­deln nicht auf das Gesetz beschränkt bleiben.

Olga Tokar­czuk: Anna In. Eine Reise zu den Katakomben der Welt, Kam­pa Pock­et 2024, ISBN 978 3 311 15055 8.

Arbeiten am Geheimnis der Welt

Zum 80. Geburtstag von Peter Handke

Während der Pro­tag­o­nist, “an dem Geheim­nis der Welt [arbeit­en]” (91) möchte, nimmt die Für­sorge für das eigene Kind seine ganze Aufmerk­samkeit in Beschlag. Doch in der Beziehung zu seinem Kind erfährt der Pro­tag­o­nist Momente, in denen das Geheim­nis der Welt spür­bar wird. Von dieser Diskrepanz zwis­chen Fak­tiz­ität und Tran­szen­denz han­delt Peter Hand­kes Erzäh­lung “Kindergeschichte”.

Die Erzäh­lung beschreibt die ersten zehn Jahre der Beziehung eines Vaters zu sein­er Tochter. Wed­er der Vater noch die Tochter wer­den namentlich genan­nt, auto­bi­ografis­che Details lassen jedoch ver­muten, dass es sich um die Beziehung Hand­kes zu sein­er Tochter Ami­na han­delt. 

Obwohl Hand­ke auto­bi­ografisch schreibt, bleibt die Erzäh­lung nicht auf Hand­kes sub­jek­tive Lebenswirk­lichkeit beschränkt. Auf­fäl­lig ist, dass der Erzäh­ler sich selb­st als ‚der Erwach­sene‘ und seine Tochter als ‚das Kind‘ beze­ich­net. Auch Orte und Städte wer­den nicht namentlich genan­nt. Dadurch wird ein gewiss­es Abstrak­tion­sniveau erre­icht.

Faktizität und Transzendenz in der Beziehung zwischen Vater und Kind

Der Erzäh­ler verbindet mit dem Gedanken an ein Kind „die Vorstel­lung von ein­er wort­losen Gemein­schaftlichkeit, von kurzen Blick­wech­seln, […] von Nähe und Weite in glück­lich­er Ein­heit“ (7). Man kann in den Begrif­f­en Nähe und Weite eine Rem­i­niszenz an die zuvor genan­nten Begriffe Fak­tiz­ität und Tran­szen­denz erken­nen. Die Fak­tiz­ität, sich um das eigene Kind küm­mern zu müssen, schließt Nähe ein. Die Entschei­dung der Mut­ter, für einige Zeit wegzuge­hen, um in ihrem Beruf neu anz­u­fan­gen, schließt eine solche Nähe aus und kommt in den Augen des Pro­tag­o­nis­ten einem Mis­sacht­en der fak­tis­chen Wirk­lichkeit gle­ich: „War die Verpflich­tung ‚Kind‘ nicht das Natür­liche, Sin­n­fäl­lige, Ein­leuch­t­ende, zu dem es nicht ein­mal eine Frage geben durfte? War nicht jede noch so wun­der­bare Leis­tung, die erkauft war mit dem Ver­leug­nen des Offenkundi­gen, der einzig verbinden­den Wirk­lichkeit, von vorn­here­in unehren­haft und ungültig?“ (46/47)

Allerd­ings geht die Beziehung des Vaters zu seinem Kind über die zuvor genan­nte Fak­tiz­ität hin­aus. Der Erzäh­ler beze­ich­net diese Ebene als Glauben: „Ohne je eine Mei­n­ung zu ‚Kindern‘ im all­ge­meinen gehabt zu haben, glaubte er eben an dieses bes­timmte Kind.“ (63) Der Glaube über­schre­it­et die fak­tis­che Wirk­lichkeit. Es gibt hier eine Nähe zwis­chen Vater und Kind, die nicht an die Fak­tiz­ität gebun­den bleibt, son­dern auf die Weite der Tran­szen­denz hin­ausweist.

Diesen Glauben an das eigene Kind kon­trastiert der Erzäh­ler durch den Begriff des Zweifelns (65). Der Zweifel ist an die Fak­tiz­ität gebun­den. Konkret zweifelt der Pro­tag­o­nist an der sozialen Kom­pe­tenz seines Kindes. Im Umgang mit Gle­ichal­tri­gen stellt sich das Kind beson­ders ungeschickt an. Der Umzug in einen frem­den Sprachraum, in dem anti­deutsche Ressen­ti­ments spür­bar sind, vere­in­facht dieses Prob­lem nicht. Für den Pro­tag­o­nis­ten ist es eine kon­flik­tre­iche Erwä­gung, ob das Kind den­noch unter Altersgenossen am besten aufge­hoben sei: „Waren dem­nach erst die ‚Artgenossen‘ die eigentlichen Ange­höri­gen, und die Erwach­se­nen im besten Fall bloße Sorge­berechtigte?“ (60) 

Das Geheimnis der Welt

Eine Auflö­sung erfährt dieser Kon­flikt zwis­chen Glauben und Zweifeln in einzel­nen Momenten, in denen so etwas wie das “Geheim­nis der Welt” spür­bar wird. Beispiel­sweise beschreibt der Erzäh­ler einen Aus­flug, den der Pro­tag­o­nist mit ein­er Gruppe von Kindern, zu denen auch das eigene Kind gehört, untern­immt (70f.). Im Zuge dessen erfährt sich der Pro­tag­o­nist nicht nur als Auf­sichtsper­son, son­dern als selb­stver­ständlich­er Teil der Gruppe. Auch das eigene Kind ist ohne Prob­leme inte­gri­ert. Die Stra­pazen der Wan­derung sind geteilte Stra­pazen, welche die Gruppe zusam­men­schweißen. Im Erleb­nis dieser Ein­heit und Gemein­schaftlichkeit erfährt sich die Gruppe als ein einziger Organ­is­mus. Mit anderen Worten ver­weist dieses Erleb­nis auf eine tran­szen­dente Har­monie und appel­liert an die men­schliche Fähigkeit zum Glauben an das “Geheim­nis der Welt”. 

Peter Hand­ke: Kindergeschichte, Suhrkamp 1981, ISBN 3–518-03016–7.

“… es kommt aber darauf an, die Welt zu verändern”

Was hat eigentlich die Pro­tag­o­nistin in Zora del Buonos Roman “Die Marschallin” mit der roten Zora aus dem Jugend­buch von Kurt Held gemein­sam?

Die rote Zora als Gefährtin im Geiste

Die rote Zora ist bekan­nt aus dem Jugend­buch “Die rote Zora und ihre Bande”. Zusam­men mit ein­er Gruppe von Waisenkindern schlägt sie sich in einem kroat­is­chen Küstenort durch. Was die zusam­mengewür­felte Bande zusam­men­schweißt, ist ihre Sol­i­dar­ität füreinan­der. Aber die Kinder haben auch Für­sprech­er unter den Dorf­be­wohn­ern und treten mit ihnen gemein­sam für soziale Gerechtigkeit ein.

Im Roman “Die Marschallin” von Zora del Buono heißt die Pro­tag­o­nistin eben­falls Zora, sie ist die Groß­mut­ter der Autorin. Diese Zora hat einiges mit Kurt Helds Ban­de­nan­führerin gemein­sam. Bei­de stam­men aus dem Gebi­et, das ein­mal Jugoslaw­ien war, und bei­de mussten als Kinder den Ver­lust ihrer Mut­ter verkraften. Vielle­icht wurde ger­ade durch diese Erfahrung das Tal­ent zur Anführerin geweckt. Nicht zufäl­lig trägt der Roman von Zora del Buono den Titel “Die Marschallin”, denn die Groß­mut­ter der Autorin, die eben­falls Zora Del Buono (allerd­ings mit großem “Del”) heißt, behielt stets das Kom­man­do über ihre Fam­i­lie — sowohl über ihre vier Brüder als auch über ihre drei Söhne. Dieses Kom­man­do ging so weit, dass Zora die Schwiegertöchter für ihre Söhne aus­suchte. Das Kri­teri­um, das ihr dabei als Richtschnur diente, war, dass die Schwiegertöchter selb­st keine Müt­ter haben soll­ten. Zora war von einem grund­sät­zlich­es Mis­strauen gegenüber Frauen geprägt und wollte das weib­liche Per­son­al ihrer Fam­i­lie ger­ing hal­ten.

Genossen unter sich

Karl Marx und Friedrich Engels © Sophia Höff

Zur Bande von Zora Del Buono gehörten solche kom­mu­nis­tis­chen Grün­dungs­fig­uren wie Anto­nio Gram­sci und Josip Broz Tito. Zora war eine glühende Kom­mu­nistin. Diese Pas­sion für den Kom­mu­nis­mus teilte sie mit ihrem Ehe­mann, dem sizil­ian­is­chen Radi­olo­gen Pietro Del Buono. Die bei­den lern­ten sich 1919 in der slowenis­chen Stadt Bovec im Soča-Tal ken­nen. Nach dem ersten Weltkrieg gehörte dieser Teil der ehe­ma­li­gen K.-u.-k-Monarchie zu Ital­ien.

Einige Zeit ver­bracht­en Zora und Pietro zusam­men mit ihren Söh­nen in Berlin, wo Pietro an der Char­ité beschäftigt war. Die meiste Zeit über lebten die Del Buonos jedoch in der südi­tal­ienis­chen Stadt Bari, wo Zora eigens ein Palaz­zo ent­warf, das sowohl als Res­i­denz wie auch als radi­ol­o­gis­che Klinik fungierte. Während ihr Mann also im Untergeschoss eine Klinik betrieb, beschäftigte sich Zora im Obergeschoss damit, das Schick­sal ihrer Fam­i­lie zu spin­nen.

Glanzzeiten und Schicksalsjahre

Ein Einzelschick­sal ist nicht ohne die Zeit­geschichte zu denken. So sind die Ereignisse im Leben der Buonos eng mit den poli­tis­chen Umwälzun­gen ihrer Zeit ver­woben. Während des ital­ienis­chen Faschis­mus sym­pa­thisierten Zora und Pietro mit den Par­ti­sa­nen und ein beson­deres Ereig­nis war der Besuch Titos im Palaz­zo der Fam­i­lie. Um diesen Besuch und eine ver­meintliche Krankheit Titos rankt sich eine gern tradierte Fam­i­lien­anek­dote.

Für den Roman wird aber ein anderes Datum zu einem Kristalli­sa­tion­spunkt. Am 24. Juli 1948 ereignete sich ein Ver­brechen, in das die Del Buonos ver­strickt waren. Für Zora Del Buono resul­tierte daraus ein Schuldge­fühl, das sie bis zu ihrem Tod ver­fol­gte. 1948 war auch das Jahr, in dem die Del Buonos aus der Kom­mu­nis­tis­chen Partei Ital­iens aus­geschlossen wur­den. Das Großbürg­er­tum war for­t­an nicht mehr als Parteim­it­glied gefragt.

Sozial­is­tis­che Glas­malerei im ehe­ma­li­gen Staat­srats­ge­bäude der DDR © Sophia Höff

Der let­zte Teil des Romans wird in Form eines Monologs der Groß­mut­ter erzählt. Zora Del Buono lebte bis zu ihrem Tod 1980 in einem Senioren­wohn­heim in der Stadt Nova Gor­i­ca, Jugoslaw­ien. Von den mondä­nen Jahren in Bari scheint an ihrem Lebens­abend nicht viel geblieben zu sein. Auch den frühen Tod ihrer Söhne musste sie verkraften.

In einem schw­er nachvol­lziehbaren Gedanken­gang deutete sie den Tod ihrer Söhne als Strafe ein­er höheren Macht. Aus dem Schuld­beken­nt­nis, für den Tod der Söhne ver­ant­wortlich zu sein, spricht eine Selb­stüber­schätzung, aber zugle­ich ein Bewusst­sein für das eigene Scheit­ern. Das Schick­sal ist nicht zu steuern und unter­wirft sich auch nicht dem Dik­tat ein­er Marschallin.

Ein starkes Porträt

Der Roman “Die Marschallin” zeich­net im Kern das Porträt ein­er wil­lensstarken und res­oluten Frau, deren Biografie jedoch Brüche und Wider­sprüche offen­bart, die sie zu ein­er ein­drucksvollen Zeitzeu­g­in des 20. Jahrhun­derts machen.

Zora del Buono: Die Marschallin, C. H. Beck 2020, ISBN: 978–3‑406–75482‑1, gebun­den, 24 Euro.

Michael Ende und der Ursprung aller Möglichkeiten

Um zu lieben, braucht es die Vorstel­lungskraft, dass das, was einem im All­t­ag begeg­net nicht alles sein kann. Das ist vielle­icht nichts, worin sich die Liebe von anderen Werten unter­schei­det. Auch Schön­heit, Stärke, Mut und Weisheit sind Werte, die den Sta­tus quo über­steigen. Ger­ade in der Gebrochen­heit unser­er Exis­tenz erleben wir die Sehn­sucht nach diesen Werten. Doch nur die Liebe ver­langt, dass wir unser Ich radikal preis­geben. Diese Erfahrung macht Bas­t­ian Balthasar Bux in Michael Endes Roman „Die unendliche Geschichte“.

In gewiss­er Weise ist „Die unendliche Geschichte“ ein Entwick­lungsro­man. Der Pro­tag­o­nist lernt näm­lich an einem Punkt tief­ster Verzwei­flung, sich selb­st neu zu denken und sich so eine Iden­tität zu schaf­fen. Anders als im klas­sis­chen Entwick­lungsro­man zieht Bas­t­ian jedoch nicht hin­aus in die Welt, son­dern hinein in sein Inner­stes. Denn der Ausweg aus sein­er Mis­ere liegt in seinem eige­nen Selb­stver­ständ­nis. Ist er daran gebun­den, feige zu sein? Oder birgt seine Vorstel­lungskraft nicht eben­so die Möglichkeit, ein mutiger Held zu sein? Man kön­nte annehmen, dass es nicht viel bedeutet, sich nur als mutig vorzustellen. Tat­säch­lich ist aber ger­ade diese Bere­itschaft, die Sehn­sucht und das Wün­schen zuzu­lassen, die Grund­lage aller Möglichkeit­en und die Voraus­set­zung des Han­delns über­haupt: Nur wer sich als mutig vorstellt, hat die Möglichkeit mutig zu sein. Wer es sich in sein­er Feigheit bequem macht, erfind­et wom­öglich tausend Ausre­den, weshalb das nicht anders gin­ge; doch er wird niemals über sich hin­auswach­sen. In dem Maß wie jemand auf seine fak­tis­che Exis­tenz beschränkt bleibt, wird er niemals eine Iden­tität entwick­eln. Die Iden­tität, die sich Bas­t­ian in Endes Roman zu eigen macht, ist das, was er sein möchte. Doch er lernt, dass er nicht er selb­st sein kann, wenn er nicht auch seine Ver­gan­gen­heit annimmt – wenn auch nur, um in der Zukun­ft ein ander­er zu sein.

Für Michael Ende ist jedoch an diesem Punkt die Iden­titätssuche des Pro­tag­o­nis­ten nicht abgeschlossen. Bas­t­ian stellt sich am Ende des Romans der fak­tis­chen Wirk­lichkeit, als jemand, der bere­it ist, sein Ich preiszugeben – nicht in der Kapit­u­la­tion gegenüber der Welt des Fak­tis­chen, son­dern in der Sehn­sucht auf den höch­sten Wert: die Liebe. Damit hat er seinen Mut real ein­gelöst. Zugle­ich war seine Iden­titätssuche notwendig, denn nur wer ein Ich hat, das er preis­geben kann, ist zur Liebe fähig.

Zur Zeit sein­er Pub­lika­tion wurde Endes Roman als unpoli­tisch und eskapis­tisch kri­tisiert. Im Gegen­satz dazu denke ich, dass „Die unendliche Geschichte“ äußerst poli­tisch ist. Ende zeigt, dass die Voraus­set­zung allen (poli­tis­chen) Han­delns die Fähigkeit und der Mut zur Fan­tasie ist.

Michael Ende: Die unendliche Geschichte, Thiene­mann Ver­lag 2019, ISBN: 978–3‑522–20260‑2; 20 Euro.

Wie der Riesling nach New South Wales kam

Was soll man tun, wenn es einen in eine Gegend ver­schla­gen hat, wo kein Wein wächst? Ganz klar, man importiert welchen und am besten stellt man auch gle­ich ein paar Arbeit­er an, die etwas vom Weinan­bau ver­ste­hen.

Ob das die Über­legun­gen waren, die den Unternehmer und Poli­tik­er John Macarthur motivierten, ist nicht ein­wand­frei zu rekon­stru­ieren. Es ste­ht aber fest, dass es zu sein­er Zeit, als die Kolonie New South Wales noch in ihren Anfän­gen steck­te, dort keinen Wein gab und dass die Macarthurs die ersten und die erfol­gre­ich­sten waren, die Weine in der Region kul­tivierten.

Eine gute Idee

John Macarthur war zwar nicht vom Fach, aber er hat­te seinen Geschmacks­gau­men trainiert. Zusam­men mit seinen Söh­nen William und Edward unter­nahm er zwis­chen 1815 und 1816 eine Expe­di­tion nach Europa, um ver­schiedene Wein­sorten zu inspizieren und neben­bei noch etwas über deren Anbau zu erler­nen. Allerd­ings reichte seine prak­tis­che Erfahrung dann doch nicht aus, um ein paar der Wein­reben in brauch­barem Zus­tand nach Aus­tralien zu trans­portieren.

Zuhause der Macarthurs um 1834, Cam­den Muse­um © Sophia Höff

Immer­hin besaß er schon das passende Land: Als John Macarthur 1805 fün­f­tausend Mor­gen Land zuge­sprochen bekam, hieß die Region noch Cow­pas­ture Plains. Macarthur hat­te den britis­chen Kolo­nialsekretär Lord Cam­den davon überzeugt, dass sich das Land prächtig für Viehzucht und Land­wirtschaft eignen würde. 1830 hat­ten die Macarthurs dort einen ersten Wein­berg angelegt.

Die nächste Generation übernimmt

Schein­bar nahm die geistige Gesund­heit John Macarthurs allmäh­lich ab. Daher über­nah­men 1832 seine Söhne das Rud­er. Die Schafzucht flo­ri­erte bere­its und der Weinan­bau wurde eifrig vor­angetrieben. Dazu soll­ten deutsche und englis­che Winz­er angestellt wer­den.

Im Okto­ber 1835 gab Gou­verneur Bourke ein Sys­tem von Belo­bi­gun­gen bekan­nt, wodurch bes­timmte Immi­granten sub­ven­tion­iert wer­den soll­ten. Das Schema favorisierte Lan­dar­beit­er mit Fam­i­lie. Arbeit­ge­ber kon­nten so gün­stig Arbeit­er in die Kolonie holen.

Das kam für die Macarthurs wie gerufen. Edward hat­te ger­ade seinen Posten im House of Lords ver­loren und suchte ohne­hin nach ein­er sin­nvollen Betä­ti­gungsmöglichkeit. Deshalb ging er nach Deutsch­land, um Winz­er aus dem Rheinthal zu rekru­tieren. Das Sys­tem von Belo­bi­gun­gen zielte nicht nur auf das fach­liche Kön­nen, son­dern auch auf den Charak­ter ab. Es gab schein­bar Schwierigkeit­en, die erforder­lichen Papiere zu bekom­men. Deshalb ließ Edward seine Beziehung spie­len und reichte am 15. März 1837 eine Eingabe bei Lord Glenelg in Lon­don ein. Der sollte bestäti­gen, dass die Auswan­derung der sechs aus­ge­sucht­en Fam­i­lien durch die Regierung ihrer Majestät sank­tion­iert war. Die Zeit dränge, heißt es in der Eingabe, denn die Fam­i­lien soll­ten einige Monate vor der Wein­ernte ankom­men, die im Jan­u­ar und Feb­ru­ar stat­tfind­en würde.1

Die ersten Deutschen in New South Wales

Nach diesem Schema bracht­en die Macarthurs zwis­chen 1837 und 1838 sechs Fam­i­lien aus dem Rhein­tal in der Nähe von Frank­furt nach New South Wales. Das Schiff mit den deutschen Fam­i­lien an Bord legte am 10. Dezem­ber 1837 in Lon­don ab. Wie aus den Pas­sagierlis­ten zu erse­hen ist, stammten sie aus Nas­sau. Sie waren als Diener gelis­tet.

Trauben­presse der Winz­er­fam­i­lie Thurn, Cam­den Muse­um © Sophia Höff

Die Reise ver­lief nicht rei­bungs­los: Kurz nach­dem sie Lon­don ver­lassen hat­ten, wur­den viele der Frauen und Kinder seekrank. Außer­dem mussten sie mit anse­hen, wie ein Matrose, der zu tief ins Glas geguckt hat­te und zur Strafe ans Steuer­rad gebun­den wurde, durch die stür­mis­che See über Bord ging. Ins­beson­dere Johann Stein erwies sich als echter Karneval­ist, als er bei ein­er mak­aberen See­mannsz­er­e­monie an Fasching dachte. In einem Brief vom 27. Mai 1838 erzählte er, dass sich fünf der Matrosen verklei­de­ten, Schiff­s­teer auf das Gesicht der Fahrgäste träufel­ten und sie anschließend mit einem Ring absch­abten. Ein offen­bar wider­lich schmeck­endes Getränk musste auch kon­sum­iert wer­den.2

Über kurz oder lang war die Seefahrt über­standen. Die Wein­ernte des Jahres 1838 hat­ten sie jedoch ver­passt, als sie am 22. April in Syd­ney ein­liefen. Die sechs nas­sauis­chen Fam­i­lien waren die erste sig­nifikante Gruppe Deutsch­er, die nach New South Wales kam. Mit ihnen kam der erste Ries­ling in die Kolonie. Die Cot­tages in Cam­den Park, wie Macarthur sein Land in Anerken­nung seines Gön­ners nan­nte, standen für die Deutschen bere­it. Sie waren mit allem Notwendi­gen aus­ges­tat­tet.

Der Wein wächst und gedeiht…

Der Ries­ling, der im Rhein­tal ange­baut wird, ist sicher­lich nicht zu ver­acht­en. Doch die Macarthurs hat­ten wahrschein­lich nicht die kul­turellen Unter­schiede bedacht. Ins­beson­dere William hat­te Prob­leme die nas­sauis­che Leben­sart nachzu­vol­lziehen. In einem Brief vom 20. August 1847 schrieb er an Edward: „Sie waren eine sehr unan­genehme Gesellschaft, unun­ter­brochen am Stre­it­en und in heißem Wass­er“.3

… persönliche Differenzen ebenso

Den gele­gentlich aus­ge­tauscht­en Ansicht­en zu poli­tis­ch­er Frei­heit kon­nte er sich über­haupt nicht anschließen. Es stand das Rev­o­lu­tion­s­jahr 1848 vor der Tür. Sobald ihr Fünf-Jahresver­trag erfüllt war, entließ William deshalb alle Nas­sauer bis auf Johann Stein, den er als einen exzel­len­ten und treuen Angestell­ten beze­ich­nete.

Ein­trag über Johann Stein in der Buch­hal­tung der Macarthurs, State Library of NSW © Sophia Höff

Doch die Dif­feren­zen, die William mit den Nas­sauern gehabt zu haben schien, waren wohl nicht grund­sät­zlich. Denn als 1843 die Verträge der sechs Arbeit­er aus­liefen, wollte er neue aus Deutsch­land kom­men lassen. Die Kolo­nial­regierung in Lon­don lehnte das mit der Begrün­dung ab, dass keine größere Anzahl nicht-britis­ch­er Winz­er als Arbeit­er in der Kolonie zuge­lassen wer­den kön­nten. In einem Vor­wort zu seinen gesam­melten Zeitungs­beiträ­gen „Let­ters on the Cul­ture of the Vine, Fer­men­ta­tion and the Man­age­ment of the Wine in the Cel­lar“ kon­terte William Macarthur ärg­er­lich: „Es mag natür­licher­weise gefragt wer­den, wie es kommt, dass, wenn Boden und Kli­ma so vorteil­haft für Weinan­bau sind, wir unsere Hügel nicht von Wein eingek­lei­det sehen […]? [E]s ist der beina­he vol­lkomme­nen Abwe­sen­heit von prak­tis­ch­er Erfahrung mit den Einzel­heit­en geschuldet. Hätte unsere Heima­tregierung ihre Pflicht erfüllt, hätte sie […] zwei- oder drei­hun­dert deutsche, schweiz­erische oder franzö­sis­che Winz­er an unsere Küsten über­sandt“.4

Natür­lich kon­nte auch dieses Hin­der­nis aus dem Weg geräumt wer­den und weit­ere deutsche Fam­i­lien kamen nach Cam­den Park. Darunter war auch Joseph Stein, der nach Johann und Jakob als drit­ter aus der Fam­i­lie Stein nach Syd­ney kam. Sein Brud­er Johann Stein hat­te für ihn eine Anstel­lung bei den Macarthurs arrang­iert. In einem Brief an Bern­hard Jung vom 26. Sep­tem­ber 1849 berichtete Joseph Stein, dass er eben­falls bei den Macarthurs als Auf­se­her über den Wein­berg und den Keller arbeit­en und in das­selbe Cot­tage einziehen werde wie Johann zwölf Jahre zuvor. Zu diesem Zeit­punkt hat­te Johann bere­its 100 Mor­gen eigenes Land in der Umge­bung erwor­ben. 1852 kam Mar­tin Thurn aus Frauen­stein am Rhein, um bei den Macarthurs zu arbeit­en. Seine Wein­presse ist heute im Muse­um Cam­den aus­gestellt.

Wein­presse der Winz­er­fam­i­lie Thurn, Cam­den Muse­um © Sophia Höff

Die Weinindustrie in Camden heute

Es ist kein Wun­der, dass sich William so für sein Konzept, inter­na­tionale Winz­er her­anzu­holen, ein­set­zte. Es war erfol­gre­ich. Cam­den Park war sein­erzeit der größte Wein­pro­duzent Aus­traliens. Sie schafften es auf 16.000 Gal­lo­nen pro Jahr und ver­fügten über bis zu 30.000 Gal­lo­nen in ihrem Weinkeller. Der Ries­ling aus Cam­den Park gewann inter­na­tionale Preise, bis eine Reblaus-Epi­demie in den 1880ern dem ein abruptes Ende set­zte. Nach und nach wird die Region aber wieder als Weinan­bauge­bi­et genützt. Heute gibt es mehrere Weingüter in Cam­den und die Macarthur Fam­i­lie wohnt noch immer in Cam­den Park. Der Ries­ling hat sich mit­tler­weile in ganz Aus­tralien etabliert, wobei er sich geschmack­lich vom rhein­hes­sis­chen Ries­ling unter­schei­det.

Der Macarthur-Park in Cam­den © Sophia Höff

FUßNOTEN

  1. Cloos und Tamp­ke: Greet­ings from…, S. 11. ↩︎
  2. Cloos und Tamp­ke: Greet­ings from…, S. 88. ↩︎
  3. Cloos und Tamp­ke: Greet­ing from…, S. 22. ↩︎
  4. Macarthur: Let­ters on…, S. iv. ↩︎

LITERATUR

  • Atkin­son, Alan: Cam­den. Farm and vil­lage life in ear­ly New South Wales, Mel­bourne 1988.
  • Cloos, Patri­cia und Tamp­ke, Jür­gen (Hrsg.): Greet­ings from the land where milk and hon­ey flows. The Ger­man emi­gra­tion to NSW 1838–1858, Can­ber­ra 1993.
  • King, Hazel: Eliz­a­beth Macarthur and her world, Syd­ney 1980.
  • Macarthur, William: Let­ters on the cul­ture of the vine, fer­men­ta­tion, and the man­age­ment of the wine in the cel­lar, Syd­ney 1844.
  • Macarthur, William: Let­ters on the cul­ture of the vine, fer­men­ta­tion, and the man­age­ment of the wine in the cel­lar, Syd­ney 1844.

„Es ist tatsächlich ein gefährliches Spiel“

Ein Interview mit dem Schriftsteller Volker Kaminski über seinen Roman “Der Gestrandete”

KUM: Ein Grund­mo­tiv des Romans “Der Ges­tran­dete” kön­nte man mit dem Slo­gan “life imi­tates art” para­phrasieren. Die Kun­st — ob in Form eines The­ater­stücks oder in Form ein­er Zeich­nung — greift im Roman auf das Leben der Pro­tag­o­nis­ten über. So ver­sucht der Ich-Erzäh­ler Sascha Fehrmann über den Roman von E. T. A. Hoff­mann (“Die Elix­iere des Teufels”), den Geheimnis­sen seines früheren Schulka­m­er­aden Frank Kali­na auf die Spur zu kom­men. Hast Du damit eine falsche Fährte gelegt?

Volk­er Kamin­s­ki: Kun­st kann das Leben immer bee­in­flussen, manch­mal auf fördernde, begeis­ternde Weise, sie kann ganze Biografien verän­dern, Erweck­ungser­leb­nisse ver­schaf­fen, sie kann aber auch neg­a­tive Fol­gen zeit­i­gen (das berühmteste Beispiel aus der Lit­er­aturgeschichte ist wohl Goethes „Werther“, der zu sein­er Zeit nicht nur eine Klei­der­mode aus­löste, son­dern sog­ar einige unglück­lich Ver­liebte zur Nachah­mung des Suizids ver­leit­ete). An eine falsche Fährte habe ich nicht gedacht, im Gegen­teil, Sascha benutzt Hoff­manns Roman eher zur Spuren­suche und befragt Frank mit Hil­fe des Roman­hin­ter­grunds, als er merkt, wie wichtig das Buch für diesen ist. Es ist ein Spiel mit Motiv­en und Möglichkeit­en, die der düstere Hoff­mann-Roman vorgibt, da habe ich auch mein­er alten Liebe zu Hoff­mann und der Roman­tik Raum gegeben.

Willkommen bei den Fehrmanns: Die Lebenswelt der Protagonisten

KUM: Sascha reflek­tiert ein ums andere Mal seine Lage. Nach­dem er zuerst sein­er Frau spon­tan von Franks Ver­gan­gen­heit erzählt, entschließt er sich dann, über das, was er von und über Frank erfährt, Stillschweigen zu bewahren. Das erscheint recht fahrläs­sig, wenn man bedenkt, welch schw­er­er Ver­dacht auf Frank liegt. Was sagt das über Sascha aus? Liegt darin das Unberechen­bare und Faszinierende des Pro­tag­o­nis­ten?

Kamin­s­ki: Es ist tat­säch­lich ein gefährlich­es Spiel, das Sascha treibt, er ringt ja auch andauernd mit sich, ob es richtig ist und ob er weit­er schweigen und Franks Nähe zu sein­er Frau und der The­ater­gruppe zulassen darf. Ander­er­seits ver­lockt ihn die „böse“ Energie des alten Fre­unds, er ist fasziniert von dessen ver­meintlich authen­tis­cheren, exis­ten­zielleren Lebensweise. Sascha muss sich ständig an ihm abar­beit­en, seine „Ruh ist hin“, kön­nte man mit Goethe sagen, sein gewohntes Leben gerät in gefährlich­es Fahrwass­er. Aber das ist für ihn und seine Frau natür­lich ander­er­seits auch span­nend und her­aus­fordernd.

KUM: Auf der anderen Seite ver­rät Saschas Wahrnehmung viel über seine Gefühlslage. Das kommt beson­ders gut in den Schilderun­gen von seinem Garten zum Aus­druck. Auf Seite 223 heißt es zum Beispiel: „Der Garten zeigte wieder sein Som­mer­gesicht, das fortschre­i­t­end fre­undlich­er zu mir herüber­sah.“ Dieser Ein­druck ste­ht in schar­fem Kon­trast zu anderen Pas­sagen, wo die Urwüch­sigkeit des Gartens im Vorder­grund ste­ht und als Bedro­hung emp­fun­den wird. Geben die Wahrnehmungs­beschrei­bun­gen ein authen­tis­cheres Bild von Saschas Innen­leben wieder als seine Gedanken?

Kamin­s­ki: Sascha der Garten­fre­und, der ewig sich auf der Liege Aus­ruhende. Warum ist er eigentlich so erhol­ungs­bedürftig? Seine merk­würdi­ge Ver­bun­den­heit mit der (Garten-)Natur war für mich von Anfang an ein Motiv im Roman. Die Lebenswelt der Fehrmanns, ihr Wohl­stand, das geerbte Haus und der „ver­wun­sch­ene“ Garten dahin­ter, das ist für Sascha nicht unprob­lema­tisch, er ist nicht eins mit dieser Rolle als behüteter Bürg­er. Da rebel­liert etwas in ihm, das nimmt er dann manch­mal als Bedro­hung von außen wahr. Das Gesicht des Gartens wan­delt sich, je nach­dem wie sich seine innere Entwick­lung fort­be­wegt. Diese irra­tionalen Gefüh­le sagen tat­säch­lich viel, vielle­icht mehr über seinen Zus­tand aus als seine ratio­nalen Gedanken.

KUM: Auch die Dialoge charak­ter­isieren die Pro­tag­o­nis­ten natür­lich in ganz bes­timmter Weise. Im Roman ist der Dia­log zudem ein wichtiges Mit­tel zur Wahrheits­find­ung. Frank räumt ja expliz­it ein, gegenüber Sascha einen Drang zur Beichte zu ver­spüren. Was er geste­ht, ste­ht für Sascha allerd­ings immer unter dem Vor­be­halt der Lüge. Kann man wörtlich­er Rede im Roman trauen? Inwiefern hil­ft sie dabei, die Charak­tere zu skizzieren?

Kamin­s­ki: Ich bin ein großer Fan von Roman­di­alo­gen, sie sind für mich ein ide­ales verklein­ertes Spielfeld zur Aus­tra­gung der im Roman behan­del­ten Kon­flik­te. Indem die Protagonist*innen reden, stre­it­en, sich gegen­seit­ig belü­gen, sich her­aus­fordern, unter Druck set­zen etc., treiben sie die Hand­lung voran und lassen den Span­nungs­bo­gen sich weit­er biegen. Lügen gehören naturgemäß zum Dia­log, und die Beichte ist nahezu die älteste Form des Wech­selge­sprächs. Auch in Hoff­manns Roman wird des Öfteren gebe­ichtet (es ist ja auch ein Mönchs-Roman) und sich in Lügen geflüchtet. Doch es gibt auch immer den Drang nach Wahrheit und den unbändi­gen Wun­sch sie ans Licht zu brin­gen.

Dichtung und Wahrheit

KUM: Du bist in Karl­sruhe geboren und hast Philoso­phie studiert. Neben detail­lierten Stadtschilderun­gen ent­deckt man im Text inter­es­sante philosophis­che Gedanken. Der Dia­log set­zt einen Gesprächspart­ner voraus. Der Blick des anderen ist, wenn man Sartre fol­gen möchte, ein Spiegel der eige­nen Seele. An promi­nen­ter Stelle wird das Motiv des Spiegels im Roman aufge­grif­f­en, näm­lich auf der Bühne während der Pre­miere des The­ater­stücks. Die Beziehung zwis­chen Sascha und Frank kann man im Sinne Sartres ver­ste­hen: Am Ende des Romans artikuliert Frank beispiel­sweise, worin die geistige Ver­wandtschaft zwis­chen ihm und Sascha beste­ht. Etwas, das sich Sascha zuvor nicht einge­s­tanden hat. Hast Du bewusst philosophis­che Gedanken im Text ver­ar­beit­et?

Kamin­s­ki: Ich wün­sche mir immer, dass die philosophis­chen Ken­nt­nisse aus meinem Studi­um ihren (unauf­dringlichen) Platz beim Schreiben find­en. Philoso­phie – wenn man sie ernst nimmt – lässt sich ja nie aufgeben oder als erledigt betra­cht­en, sie stellt die Fra­gen, die jed­er Men­sch hat. Und der Spiegel – etwas über­spitzt gesagt – ist Träger der Wahrheit, und wer etwas Schlimmes getan hat und wen das Gewis­sen peinigt, der schaut bekan­ntlich nicht gern hinein. Das Spiegelver­hält­nis zwis­chen Sascha und Frank ist im Roman so eine Art These, die hin­ter­fragt und zunehmend ver­schärft geprüft wird. Wie nahe lässt Sascha den gefährlichen Fre­und an sich her­an, wo zieht er die Not­bremse? Span­nende Fra­gen, die die Leser*innen, wie ich hoffe, auch ans Buch fes­seln.

Nur eine Illusion von Freiheit?

KUM: Auch der Gedanke der Frei­heit, der für den Exis­ten­tial­is­mus entschei­dend ist, wird enthu­si­astisch von Frank auf ein­er Par­ty gepriesen. Tat­säch­lich sind jedoch für Frank weniger seine autonomen Hand­lun­gen, son­dern eher seine affek­tiv­en charak­ter­is­tisch. Eben­so kann man von Sascha sagen, dass er einen merk­würdi­gen Umgang mit sein­er Entschei­dungs­frei­heit hat. Auf Seite 206 heißt es: „Es war meine Entschei­dung, ob und wann ich ein­greifen würde. Das war naiv.“ Das ist ein inter­es­san­ter Satz, weil er dop­peldeutig ist: War es naiv zu glauben, eine Entschei­dungs­frei­heit zu haben, oder war es naiv, seine Ver­ant­wor­tung, eine Entschei­dung zu tre­f­fen, hin­auszuzögern? Magst Du dazu etwas sagen?

Kamin­s­ki: Sascha glaubt lange, das Heft in der Hand zu hal­ten, er redet sich ein, jed­erzeit ein­greifen zu kön­nen, wenn es zu gefährlich wird, und alles zu stop­pen, wenn er es nicht mehr ver­ant­worten kann. So ist es ja oft im Leben, oder? Wir unternehmen etwas, beschließen, pla­nen, gehen einen nicht unge­fährlichen Weg in eine bes­timmte Rich­tung – wenn es zu heikel wird, kön­nen wir ja umkehren, denken wir. Und ganz ohne Risiko geht es im Leben eben sel­ten (was wir ja auch ger­ade „live“ erleben bezüglich der Abwä­gung zwis­chen Leben‑, Arbeiten‑, Reisen-Wollen und gesund­heitlichen Risiken und Gefahren). Sind wir naiv, wenn wir glauben, dass wir in unserem Han­deln frei sind? Manch­mal, wenn etwas Schlimmes ein­tritt, dann kommt es uns vielle­icht so vor. Dann müssen wir ein­se­hen, dass wir ver­let­zlich sind, schwach, angreif­bar und unfähig immer alle Risiken zu ken­nen. Ein Satz wie der von dir zitierte ist aber neben­bei auch ein willkommen­er „Cliffhang­er“, bestens geeignet, um am Kapite­lende den Felsvor­sprung zu zeigen, an dem der Pro­tag­o­nist „baumelt“.

Verschiedene Lebenswege

KUM: Das unbe­d­ingte Ver­trauen, mit dem sich Sascha und Frank von Anfang an im Roman begeg­nen, erin­nert an die Beziehung zwis­chen Brüdern. Selb­st der Ver­dacht, der auf Frank lastet, bringt Sascha nicht von der Zuver­sicht ab, dass dieser seine Angele­gen­heit­en ins Reine brin­gen wird. Im Roman wird auf ein gemein­sames ursprünglich­es Ver­ständ­nis für das Unheim­liche rekur­ri­ert. Die späteren Lebensen­twürfe der bei­den gehen ja auseinan­der und Sascha hat sich ein ruhiges Leben geschaf­fen. Welche Rolle spielt die gemein­same Schulzeit?

Kamin­s­ki: Die gemein­same Schulzeit wird im Roman kaum the­ma­tisiert – dazu ist wahrschein­lich die Gegen­wart durch das Ein­drin­gen Franks ins beschauliche Leben zu sehr aufgewühlt und beein­trächtigt. Es ist eher so, dass die sehr ver­schiede­nen Lebensen­twürfe der bei­den es – zumin­d­est für Sascha – schw­er vorstell­bar machen, dass sie sich über­haupt jemals nahe ges­tanden haben. Wie ver­schieden haben sie doch gelebt! Und es war nicht anzunehmen, dass sie sich je wieder begeg­nen, geschweige denn annäh­ern wür­den. Aber das Leben kann voller Über­raschun­gen sein.

Schreiben zwischen Theorie und Praxis

KUM: Inter­es­sant für alle, die Deine Schreib­sem­inare an der Alice-Salomon-Hochschule nicht besuchen, sind auf jeden Fall auch die im Roman ver­streuten poe­t­ol­o­gis­chen Reflex­io­nen – zum Beispiel zum The­ma des Bösen und der Span­nung. Reflek­tierst Du bere­its während des Schreibens über poe­t­ol­o­gis­che Aspek­te?

Kamin­s­ki: Es ist m. E. ein immenser Unter­schied zwis­chen dem bel­letris­tis­chen Schreiben und der the­o­retis­chen Reflex­ion darüber. So habe ich z. B. im Lauf meines Ger­man­is­tik­studi­ums, als ich bere­its regelmäßig Geschicht­en schrieb oder es zumin­d­est ver­suchte, immer dann große Schreib­schwierigkeit­en bekom­men, wenn das The­o­retis­che zu schw­er, kom­plex und sozusagen „über­grif­fig“ wurde. Schreiben set­zt eine große Unbe­fan­gen­heit und Zuver­sicht voraus, das poe­t­ol­o­gis­che Wis­sen kann da wirk­lich zum Hin­der­nis wer­den und schlimm­sten­falls eine Block­ade aus­lösen. Trotz­dem gehören die Bere­iche zusam­men, und während ich eine Geschichte ent­falte, stellen sich mir auch Form­fra­gen oder ich reflek­tiere über das The­ma und seine Imp­lika­tio­nen und möglichen Verknüp­fun­gen zu anderen The­men etc. Mich beschäftigt am stärk­sten der Bau, die Kon­struk­tion des Ganzen, weil ich den nicht vor dem Schreiben fes­tlege. Eigentlich weiß ich zunächst nur, was der Aus­gangskon­flikt, das berühmte aus­lösende Ereig­nis ist. Darauf baue ich peu à peu auf. Wenn ich dann selb­st beim Schreiben das Gefühl habe, jet­zt ist es aber über­haupt nicht mehr span­nend oder das ver­ste­he ich jet­zt selb­st nicht, das ist schreck­lich weit herge­holt, dann muss ich ein­greifen und über­legen: Wo ist der Fehler? Wenn mir dann die Musen­göt­tin einen guten Ein­fall schenkt, bin ich ganz das glück­liche Schreibkind und spiele unbeein­trächtigt von jed­er Poe­t­olo­gie stun­den­lang weit­er…

KUM: Ich danke Dir für das Inter­view.

Volk­er Kamin­s­ki, geboren 1958 in Karl­sruhe, hat Ger­man­is­tik und Philoso­phie studiert, lebt in Berlin. Neben Kurzgeschicht­en, Rezen­sio­nen und Glossen (Berlin­er Zeitung) hat er bish­er sieben Romane veröf­fentlicht, zulet­zt „Gesicht eines Mörders“ (2014), „Rot wie Schnee“ (2016) und „Auf Probe“ (2018). Seit 2014 ist er Lehrbeauf­tragter an der Alice Salomon Hochschule Berlin für das Mod­ul Cre­ative Writ­ing — Roman­werk­statt. Zur Home­page des Autors

Bild­nach­weise: Cover­bild © Info Ver­lag; Porträt © Volk­er Kamin­s­ki

Wenn das Fahrwasser unruhiger wird

Als freier Jour­nal­ist hat man es nicht leicht: Die Ein­sendun­gen für eine Lit­er­aturzeitschrift müssen redigiert wer­den, erweisen sich jedoch als nicht ger­ade gehaltvoll. Und einen sorgsam recher­chierten Artikel in ein­er renom­mierten Tageszeitung unterzubrin­gen, ist auch nicht ein­fach.

Aber der Autor und Jour­nal­ist Sascha Fehrmann hat es ganz gut getrof­fen. Er wohnt mit sein­er Frau und sein­er Tochter in einem großbürg­er­lichen Haus in Karl­sruhe, das ihnen die Schwiegerel­tern abge­treten haben. Der großflächige Garten hin­ter­lässt regelmäßig Ein­druck bei seinen Besuch­ern.

Doch die Fehrmanns kom­men in unruhigeres Fahrwass­er, als sich ein alter Schul­fre­und Saschas namens Frank Kali­na in ihr Leben ein­nis­tet. Der zunächst unwillkommene Gast, den man zu Beginn des Romans noch für einen Ein­brech­er hält, hat das Tal­ent in jed­er Sit­u­a­tion tonangebend zu sein. So zieht er die Aufmerk­samkeit auf sich, als er Frem­den von sein­er Ver­gan­gen­heit als „Men­schen­fress­er“ erzählt, und ver­prellt die bürg­er­lichen Par­tygäste der Fehrmanns durch sein emphatis­ches Plä­doy­er für die Frei­heit. Der pro­fes­sionelle Schaus­piel­er tritt frühzeit­ig der Laienthe­ater­gruppe von Saschas Ehe­frau bei und überzeugt mit seinem unberechen­baren Charis­ma. Sein Hang zum Abgründi­gen zeigt sich nicht nur in sein­er Vor­liebe für Schauer­ro­mane E. T. A. Hoff­manns, son­dern auch in seinem eige­nen Lebensen­twurf.

Das Mys­teri­um, das den selb­ster­nan­nten „Men­schen­fress­er“ umgibt, schlägt Sascha in Bann. Während immer neue Details aus Franks Ver­gan­gen­heit ans Licht kom­men, rückt die Gefahr für Sascha und seine Fam­i­lie immer näher. Den­noch hadert Sascha lange mit der Entschei­dung, wie er sich gegenüber Frank posi­tion­ieren soll, in dem er mehr und mehr das Spiegel­bild eines alter­na­tiv­en Lebensen­twur­fes erken­nt.

Volk­er Kamin­skis Roman „Der Ges­tran­dete“ überzeugt als Kri­mi mit exis­ten­zial­is­tis­chem Touch. Das Motiv des Dop­pel­gängers zieht sich auf mehreren Ebe­nen durch den Roman und erzeugt eine faszinierende Atmo­sphäre der Ambivalenz. Auch Sprache und Stil machen es dem Leser leicht, sich in die Lebenswelt der Pro­tag­o­nis­ten zu begeben.

Volk­er Kamin­s­ki: Der Ges­tran­dete, Lin­de­manns Bib­lio­thek, Band 327, Info Ver­lag 2019, ISBN: 9783963080289.

Auch heute ist Heine noch um den Schlaf gebracht

Der Todestag eines Men­schen ist ein geeigneter Tag, sich zu fra­gen, was die jew­eilige Per­son ger­ade macht. Heute ist der Todestag Hein­rich Heines. Und wenn man wis­sen wollte, wie es Heine geht, kon­nte man ihn ein­fach hin­ter dem Kas­tanien­wäld­chen an der Hum­boldt-Uni­ver­sität in Berlin besuchen.

Das war ein pit­toreskes Fleckchen. Abgeson­dert von den Touris­ten­strö­men, die Unter den Lin­den hin­aufziehen. Im schweigsamen Schat­ten eines Neben­por­tals der Uni­ver­sität gele­gen. Von den Wipfeln des Kas­tanien­wäld­chens beschirmt.Das war ein Ort ganz nach Heines Geschmack. Denn Heine suchte schon zu seinen Lebzeit­en nach einem Ruhe­p­ol, beson­ders nach­dem seine schwere Krankheit ihn ans Bett fes­selte. Diese Suche führte ihn durch ganz Paris, wo er ins­ge­samt fün­fzehn Mal umge­zo­gen ist. Let­ztlich war seine Suche von vie­len Mis­ser­fol­gen geprägt.

Heine am Kas­tanien­wäld­chen

Lei­der ist auch sein Ruhe­p­ol hin­ter dem Kas­tanien­wäld­chen nicht von langer Dauer gewe­sen. Zwar verir­ren sich auch heute eher wenige Touris­ten zu Heine, das liegt aber an dem mon­strösen Bunker, den das Max­im Gor­ki The­ater neben seinem Stammhaus errichtet hat. Eine schmale asphaltierte Gasse wurde pro­vi­sorisch über den Platz ver­legt, wobei der ehe­ma­lige Bürg­er­steig dem Gor­ki The­ater als Park­platz für Last­wa­gen dient. Bauuten­silien, Flutschein­wer­fer und Absper­run­gen tra­gen das Übrige zur ver­rot­teten Atmo­sphäre bei. Die Park­bänke, die Heine für Gäste freige­hal­ten hat, müssen als Ablage für zusam­mengekehrtes Herb­st­laub und son­sti­gen Abfall her­hal­ten.

Kein Wun­der, dass Heine dort kaum noch anzutr­e­f­fen ist. Zu seinem Glück ist er an keine irdis­chen Beschränkun­gen mehr gebun­den. So lässt er seine gus­seis­erne Hülle ein­fach an Ort und Stelle zurück, während er sich ander­swo herumtreibt. Schade ist das trotz­dem für alle, die Heine an seinem Todestag besuchen woll­ten.

Fotografie der Abwesenheit

Wenn wir in einem ver­lasse­nen Zim­mer ste­hen, eine Stereo-Anlage neben dem Bett und ein Poster an der Wand sehen, dann sind das bloße Gegen­stände, die nur auf sich selb­st ver­weisen. Und doch sind es Spuren, die uns vor Augen führen, was den Raum zu einem frem­den Raum macht. Plöt­zlich erken­nen wir die Abwe­sen­heit, die all den Gegen­stän­den um uns herum innewohnt. Der Raum entzieht sich uns, weil er auf einen anderen ver­weist, auf jeman­den, der auf diesem Bett Musik gehört und der dieses Poster ange­bracht hat. Indem jemand diesen Raum bewohnte, hat er ihm einen tran­szen­den­ten Sinn gegeben. Wenn wir nun das Zim­mer vor uns sehen, erschließt sich uns vielle­icht nicht sein Sinn und doch spüren wir die Abwe­sen­heit eines anderen.

Anna Lehmann-Brauns und Julia Rosen­baum

Dieser Abwe­sen­heit nachzus­püren, kön­nte man als lei­t­en­des Motiv der Fotografin Anna Lehmann-Brauns beze­ich­nen. Beim 8. Salon für Kun­st und Kul­tur wurde die Kün­st­lerin vorgestellt. Der Salon find­et vier­mal im Jahr zu unter­schiedlichen The­men statt und wird von der Fotografin Anett Stuth gemein­sam mit der Kun­sthis­torik­erin Julia Rosen­baum ver­anstal­tet. Neben einem Kün­st­lerge­spräch, gab es die Möglichkeit in ein­er Werkschau einen Überblick über die let­zten zwanzig Jahre aus dem Schaf­fen Anna Lehmann-Brauns zu erhal­ten. Die Mod­er­a­tion über­nahm Julia Rosen­baum.

Der Charme des Verfalls

Wenn Anna Lehmann-Brauns davon spricht, was sie immer wieder aufs Neue fasziniert, dann ist es das Herun­tergekommene, Schäbige, was aber den­noch seinen Glanz bewahrt hat. In ihren Fotografien ist genau dieser Bruch zwis­chen der aktuellen Wahrnehmung und einem unbes­timmten Vorher spür­bar. Dieses Vorher scheint das eigentliche Herzstück des Bildes zu sein. Im Vorhinein hat sich eine Geschichte ereignet und Geschicht­en sind es, die die Fotografin mit ihren Bildern verbindet.Ob es der Kün­st­lerin um das aneignen von etwas Frem­den geht?, fragt Julia Rosen­baum. Denn das Fremde scheint in Anna Lehmann-Brauns Fotografien immer anwe­send zu sein. Es sind nicht zulet­zt die Geschicht­en von Frem­den, die sie mit ihrer Fotografie ein­fängt. Außer­dem ist die Fremde für eine Kün­st­lerin rel­e­vant, die sowohl in den USA als auch in Chi­na tätig war. Lehmann-Brauns betont, dass Fotografie für sie ein Mit­tel ist, um sich in der Welt zurechtzufind­en.

Bitterblue

Immer wieder kommt Julia Rosen­baum auf das The­ma der kom­ponierten Räume zu sprechen. Erste Bekan­ntheit erlangte die Kün­st­lerin näm­lich durch die Serie „bit­terblue“, in der sie Mod­elle in Pup­pen­stuben­größe – anfangs noch recht über­laden und zulet­zt ganz schlicht – fotografierte. Sie bilden den Grund­stein für ihre weit­ere Arbeit und ihr Inter­esse an Räu­men. Nach dem Abschluss ihrer Diplo­mar­beit im Jahr 2000 hat sie sich real großen Räu­men zuge­wandt. Mit diesem Ansatz absolvierte sie die Meis­terk­lasse bei Joachim Brohm an der Hochschule für Grafik und Buchkun­st in Leipzig.

Wild Side West

Das Inter­esse für Räume ist zwar geblieben, doch spätestens der 5‑monatige Aufen­thalt in San Fran­cis­co im Jahr 2016 macht die grund­ver­schiedene Arbeitsweise evi­dent. Anna Lehmann-Brauns entsch­ied sich dafür, die lokalen Clubs der LGTB-Szene zu fotografieren. Schon rein zeitlich war es der Kün­st­lerin nicht möglich die Bilder zu arrang­ieren. Notge­drun­gen musste sie mit dem arbeit­en, was sie vor­fand. Inter­es­san­ter­weise bedeutet das für die Kün­st­lerin aber keinen Gegen­satz zur mod­ell­basierten Fotografie. In bei­den Fällen geht es für sie darum, aus dem Chaos, das sich ihr dar­bi­etet, ein „kom­poniertes“ Bild her­auszu­fil­tern. Das Bild fügt sich im Blick der Kün­st­lerin zu einem Arrange­ment zusammen.Und auch dem Betra­chter ihrer Fotografien bieten sich die Räume in diesem Sinne dar. Wenn wir einen Raum betra­cht­en, erschließen sich uns die Dinge in ihrem Uten­sil­ität­skom­plex. Der Fotografin gelingt es, diese tran­szen­dente Struk­tur in ihren Fotografien einz­u­fan­gen.

Letzter Vorhang

Ein anderes Pro­jekt war die Serie „Let­zter Vorhang“, bei der Anna Lehmann-Brauns 2018 ein halbes Jahr lang die Komödie am Kur­fürs­ten­damm fotografierte und damit den Abriss qua­si begleit­ete. Die Kün­st­lerin ist gegenüber vom The­ater geboren und verbindet daher per­sön­liche Erin­nerun­gen damit. Als Betra­chter ist man geneigt, sich eben­falls mit dem The­ater ver­bun­den zu fühlen. Denn die Geschicht­en, die sich vorher dort abge­spielt haben, sind auf den Fotografien beina­he greif­bar.

Titel­bild: © Anna Lehmann-Brauns

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