Magazin für Kultur

Kategorie: Rezension Belletristik (Seite 1 von 2)

Das Abenteuer des großen Meaulnes

Der Roman “Der große Meaulnes” von Hen­ri Alain-Fournier erzählt von der Sehn­sucht nach einem “ver­lore­nen Land”, in dem sich erfüllen würde, was der Titel­held, Augustin Meaulnes, am meis­ten begehrt.

Erzählt wird die Geschichte von Meaulnes’ bestem Fre­und, dem anfangs 15-jähri­gen François Seurel. Gemein­sam gehen sie auf eine von Seurels Eltern geleit­ete Schule in der fik­tiv­en Kle­in­stadt Sainte-Agathe, in der zen­tral­franzö­sis­chen Sologne. Meaulnes kam neu in die Klasse, gibt jedoch schnell den Ton an und wird von allen nur “der große Meaulnes” genan­nt. Die von Wäldern und Seen geprägte Land­schaft der Sologne nährt die Aben­teuer­lust der Jugendlichen. Die Klassenkam­er­aden von Seurel und Meaulnes touren mit dem Fahrrad über die Land­straße oder schle­ichen sich hin­aus in den Wald, um Grün­spechtnester auszuheben. Doch keines dieser Aben­teuer kommt an das her­an, das der große Meaulnes erlebt hat:

Meaulnes’ Aben­teuer ereignete sich in jen­em “ver­lore­nen Land”, das for­t­an zum Kristalli­sa­tion­spunkt all sein­er Wün­sche und Bestre­bun­gen wird. Eines Nachts fand er sich nach einem miss­lun­genen Stre­ich an einem namen­losen Schloss wieder, ohne zu wis­sen, wie er dor­thin gelangt war. Ehe er sich’s ver­sah, war er Gast eines wun­der­samen Kostüm­festes. Sog­ar ein Kostüm lag für ihn bere­it. Es war ein Ort der Ein­tra­cht und der Abgeschieden­heit, an dem Fremde sich als Fre­unde begeg­neten und die Welt um sich herum ver­gaßen: “Unter diesen Tis­chgenossen war nie­mand, in dessen Gegen­wart sich Meaulnes nicht wohl gefühlt und dem er nicht ver­traut hätte.” (82) Die Begeg­nung mit einem schö­nen Mäd­chen namens Yvonne de Galais, der Tochter des Schlossh­er­rn, wird für Meaulnes zu ein­er Offen­barung des Glücks. Obwohl dieses Glück zum Greifen nahe schien, entzieht es sich ihm doch und es bleibt nur eine Erin­nerung: “Mit welch­er Erre­gung dachte Meaulnes später an die Minute, in der am Ufer des Teich­es das seit­dem ver­loren gegan­gene Gesicht des Mäd­chens dem seinen so nahe gewe­sen war!” (93f.)

Abrupt ist das Fest zu Ende und Meaulnes zurück in Sainte-Agathe. Zwis­chen Wehmut nach dem Ver­lore­nen und Sehn­sucht nach Erfül­lung ver­sucht Meaulnes das ver­wun­sch­ene Schloss und die junge Schlossh­er­rin wiederzufind­en. Doch das “ver­lorene Land” ist auf kein­er Karte eingeze­ich­net. Es ist schließlich sein Schul­fre­und Seurel, der Meaulnes eine Möglichkeit eröffnet, an die er nicht mehr zu glauben gewagt hat. Doch kann das Glück, das ein­mal möglich zu sein schien, Wirk­lichkeit wer­den, nach­dem es bere­its ver­loren war? Meaulnes fühlt die Dis­tanz, die ihn von sein­er Ver­gan­gen­heit tren­nt: “Aber inzwis­chen bin ich überzeugt, dass ich, als ich das namen­lose Schloss ent­deck­te, in einem Zus­tand solch­er Vol­lkom­men­heit und Rein­heit war, wie ich ihn nie mehr erre­ichen werde.” (222) Klar ist, dass das Aben­teuer, in das Meaulnes hineinger­at­en war, längst nicht zu Ende ist. Das “ver­lorene Land” wartet darauf, in der Zukun­ft wieder­ent­deckt zu wer­den.

Hen­ri Alain-Fournier: Der große Meaulnes, Thiele Ver­lag 2014, ISBN: 978–3‑85179–317‑8.

Treffendes Zeitpanorama

Die Krim­i­nal­ro­mane um Kom­mis­sar Gere­on Rath, die mit diesem zehn­ten Band ihren Abschluss find­en, sind vor allem deshalb sehr lesenswert, weil sie nicht nur span­nende Hand­lun­gen, tre­f­fende Per­so­n­en- und Milieubeschrei­bun­gen bieten, son­dern Zeit­panora­men bieten, deutsche Zeit­geschichte erleb­bar machen. Über­wiegend spie­len die Romane in Berlin, das ken­nt­nis­re­ich und pointiert geschildert wird („Stadt voller unge­ho­bel­ter Ego­is­t­en…“ S. 134). Die Buchrei­he begann zum Ende der Weimar­er Repub­lik und endet jet­zt mit der aus mehreren Per­spek­tiv­en geschilderten Pogrom­nacht Novem­ber 1939, der erste Höhep­unkt der Juden­ver­fol­gun­gen. Das Wesen des NS-Ter­rorsys­tem wird in fast allen Begeg­nun­gen und Hand­lungssträn­gen des Romans erleb­bar, insofern ist er keine angenehme Lek­türe, wenn auch sel­tene Glücksmo­mente (wie das Leben in Ade­nauers Fam­i­lie oder die Fre­und­schaft Friedrichs mit einem Jun­gen aus jüdis­ch­er Fam­i­lie) geschildert wer­den und manche beson­ders bru­tale NS-Amt­sträger gerächt wer­den. Volk­er Kutsch­ers Romane bilden die Grund­lage für die  Kult­serie „Baby­lon Berlin“. Die Sky- und ARD-Serie gilt als eine der erfol­gre­ich­sten deutschen Fernseh­pro­duk­tio­nen, ist aber weit reißerisch­er, ent­fer­nt sich oft von den so gelun­genen Roman­vor­la­gen.

Volk­er Kutsch­er: Rath, 624 Seit­en, Hard­cov­er mit Schutzum­schlag  Piper Ver­lag, München, Okto­ber 2024, EAN 978–3‑492–07410‑0, 26.00  €.

All die gestohlenen Erinnerungen

Gaelle Nohant

Dieser tief bewe­gende Roman geht auf „die tat­säch­liche Geschichte der Arolsen Archives“ (Danksa­gung S. 427) und Gespräche der Autorin mit zahlre­ichen Nach­fahren von Opfern der NS-Herrschaft zurück. Das auch als Inter­na­tion­al Trac­ing Ser­vice (ITS) bekan­nte Archiv in Bad Arolsen, ein­er Stadt die von einem Fürsten geprägt war, der als SS-Gen­er­al zum Mit­täter im NS-Sys­tem wurde. Die Doku­menten­samm­lung in Arolsen wurde von den Alli­ierten gegrün­det, kam unter die Träger­schaft des Inter­na­tionalen Roten Kreuzes und wurde erst 2012 unter deutsch­er Träger­schaft geöffnet. Sie ist mit Hin­weisen zu rund 17,5 Mil­lio­nen Men­schen die umfassend­ste Samm­lung zu den ver­schiede­nen Opfer­grup­pen des NS-Regimes und gehört seit Juni 2013 zum UNESCO-Welt­doku­mentenerbe. Der Roman ver­mit­telt das erschüt­ternde Schick­sal aus­gewählter Opfer­grup­pen, informiert auch über weniger bekan­nte Ver­brechen der NS-Täter. So die Ver­schlep­pung von 200.000 Kindern aus Osteu­ropa zur Zwangsadop­tion und Zwangsar­beit. Die Schreck­en des KZ Tre­blin­ka, der Auf­s­tand dort und die Ver­nich­tung aller Spuren, und des Frauenkonzen­tra­tionslagers Ravens­brück, die ärztlichen Folter­ex­per­i­mente dort, selb­st die Verge­wal­ti­gun­gen beim Ein­tr­e­f­fen der rus­sis­chen Trup­pen dort, sind The­ma dieses her­aus­ra­gen­den Romans, der in Frankre­ich mit einem der renom­miertesten Lit­er­atur­preise aus­geze­ich­net wurde.

Gaelle Nohant: All die gestohle­nen Erin­nerun­gen, 432 Seit­en, Piper Ver­lag, München 2024, ISBN: ‚24 €

Über die Möglichkeit, sich selbst zu überleben

Wie oft stirbt ein Men­sch im Laufe seines Lebens? Und was ist nötig, damit er sich selb­st über­lebt? Diese Fra­gen the­ma­tisiert die pol­nis­che Lit­er­aturnobel­preisträgerin Olga Tokar­czuk in ihrem Roman “Anna In”.

Die Stadt, in der die Geschichte spielt, ist auf Ruinen erbaut, darunter liegen die Katakomben. Das sind zwei Wel­ten: Die Stadt ist die Welt der Leben­den und die Katakomben die Welt der Toten und der Dämo­nen. Um die Katakomben zu betreten, muss man ein ehernes Tor passieren. Ein­lass wird nur den­jeni­gen gewährt, die zum Tode bes­timmt sind. Doch stärk­er als durch die räum­liche Tren­nung, die durch das Tor versinnbildlicht wird, sind die bei­den Wel­ten durch ein unum­stößlich­es Gesetz voneinan­der getren­nt: Wer die Katakomben betritt, kehrt nicht mehr in die Stadt zurück. 

Eine Reise an die Grenzen des Seins

Zu Beginn des Romans ler­nen wir die Titel­heldin Anna In ken­nen, sie ist eine Göt­tin der Liebe und des Krieges und herrscht über die Stadt. Doch erzählt wird die Geschichte nicht von ihr, son­dern von ein­er Vielzahl ander­er Stim­men. Eine von ihnen ist Nina Šubur, die sich als “Ich-Jede” vorstellt, ein gewöhn­lich­er Men­sch. Sie ist eng mit Anna In befre­un­det. Gemein­sam brechen sie zu ein­er Reise auf, doch Anna In weigert sich, das Reiseziel zu ver­rat­en. So fol­gen sie den weit verzweigten met­al­lenen Pfeil­ern, auf denen die Stadt errichtet ist, und die die unter­schiedlichen Ebe­nen der Stadt zusam­men­hal­ten. Aufzüge und Trep­pen­spi­ralen verbinden die Stadt­teile miteinan­der. Es gibt auch Rikschas, von stum­men Rikscha-Fahrern betrieben, die auf den Fahrsteigen dahin­ja­gen und rasch von Ebene zu Ebene sprin­gen kön­nen. Doch Anna In und ihre Fre­undin fol­gen dem labyrinthar­ti­gen Aufzugsys­tem. Mit ein­er Karte und einem Kom­pass aus­gerüstet, steigen sie in Aufzüge ein und wer­den ander­swo wieder aus­ge­spi­en, nur um bald in den näch­sten Aufzug umzusteigen. Über kurz oder lang stellt sich her­aus, wohin es Anna In zieht, näm­lich zu den Katakomben. Als sie am ehernen Tor zum Toten­re­ich ange­langt sind, berichtet Anna In, dass ihre Zwill­ingss­chwest­er, die Herrscherin des Toten­re­ichs, sie gerufen hat. Anna In hat die lei­d­volle Klage ihrer Schwest­er in ihrem Innern ver­nom­men: “Seit Tagen höre sie ihre Stimme, vielfach zurück­ge­wor­fen vom met­al­lenen Skelett der Stadt, wider­hal­lend in den Labyrinthen ihrer Ohren, der Ham­mer auf dem Amboss tönend wie eine Glocke.” (34) Es ist ein Rufen, dem sich Anna In nicht erwehren kann. Es ist der Ruf ihrer Schwest­er, der in ihr wider­hallt. Die Schwest­ern sind vere­int als Stimme und Res­o­nanzkör­p­er. Nina Šubur leuchtet diese beson­dere Verbindung ein: “Schwest­ern müssen schließlich eine Verbindung spüren, müssen sich ver­ste­hen […].” (35) Und so fol­gt Anna In dem Ruf ihrer Schwest­er und ver­schafft sich gebi­eter­isch Zugang zu den Katakomben.

Zwischen Kühnheit und Leichtsinn

Die Kühn­heit, mit der Anna In Ein­lass zum Toten­re­ich fordert, verblüfft nicht nur den Tor­wächter. “Weißt du auch, was du da tust?”, fragt dieser, nach­dem er sie ein­ge­lassen hat, und wird für einen kurzen Moment von dem Drang über­man­nt, “dieses leichtsin­nige junge Ding zu pack­en und wieder vor die Tür zu befördern” (41). Anna In hat das Toten­re­ich betreten, ohne zum Tode bes­timmt zu sein. Über die Kon­se­quen­zen ihres Han­delns scheint sie sich keine Gedanken zu machen. Der Tor­wächter fragt sich stumm: “Weiß sie, welche Strafe sie dafür erwartet? Es gibt keinen Weg zurück, sie ist so gut wie tot, das dumme Ding.” (47) Nimmt Anna In den Tod wil­lentlich in Kauf, um ihrer Schwest­er zu helfen? Diese Frage wird nicht ein­deutig beant­wortet. Es liegt aber nahe, dass sie sich eine solche Frage gar nicht gestellt hat. Es war das Näch­stliegende, der Schwest­er Bei­s­tand zu leis­ten; eine Verpflich­tung, die sie übern­immt, ohne darüber nachzu­denken. Dies wird ihr jedoch zum Ver­häng­nis.

Die Ein-Person-Rettungsaktion

Als Anna In nach drei Tagen nicht aus den Katakomben zurück­gekehrt ist, startet ihre Fre­undin Nina Šubur, die vor dem ehernen Tor gewartet hat, eine Ein-Per­son-Ret­tungsak­tion. Ihre Verzwei­flung wächst mit jedem Anlauf­punkt, den sie ans­teuert, und mit jedem Bittge­such, das abgelehnt wird. Sie wird bei Anna Ins Lieb­habern, Friseuren und Köchen vorstel­lig, ohne Hil­fe zu erhal­ten. Selb­st Anna Ins drei Göt­ter­väter weisen sie ab. Ein­er der Väter urteilt hart: “Sie aber, Anna In, ist nicht in der Lage sich anzu­passen. Sie ist asozial, agöt­tlich. Eine Diebin und Trinkerin. […] Eine Krawall­macherin.” (69) Am Ende beruft sich der Vater auf das Gesetz, das die Leben­den und die Toten voneinan­der schei­det: Nie­mand kann von den Katakomben in die Stadt zurück­kehren. “Ich kann sie nicht über das Gesetz stellen.” (69) Dieses Gesetz gle­icht der Schöp­fung­sor­d­nung: Was einen Anfang hat, muss auch ein Ende haben; was lebt, muss ein­mal ster­ben. Die Rück­kehr der Toten zu den Leben­den ist in der Schöp­fung­sor­d­nung nicht vorge­se­hen. Man kann dem Vater zugeste­hen, dass die Geset­zmäßigkeit­en der Schöp­fung nicht zur Dis­po­si­tion ste­hen.

Hier stellt sich die Frage, was die Fam­i­lie von Anna In zusam­men­schweißt. Ist es das Gesetz? Für Anna In selb­st spielte das Gesetz keine Rolle, als sie zu ihrer Schwest­er ins Toten­re­ich eilte. Das mag als unbeson­nen gel­ten: “Alles, was sie tut”, sagt ein ander­er der Göt­ter­väter, “tut sie unbeson­nen.” (61) Aber es ist auch ein Hin­weis darauf, dass es nicht das Gesetz ist, das die Schwest­ern miteinan­der verbindet. Vielmehr spürt Anna In eine intu­itive, unre­flek­tierte Verpflich­tung, der Schwest­er zu helfen. Eine Verpflich­tung, die das Gesetz mis­sachtet.

Eine neue Ordnung

Am Ende des Romans wird nicht das Gesetz das let­zte Wort haben. Stattdessen wird ein anderes Wort wichtig wer­den: Mitleid. Aus Mitleid wer­den manche der Pro­tag­o­nis­ten den Tod auf sich nehmen und aus Mitleid wird ihnen ein neues Leben geschenkt wer­den. In Tokar­czuks Roman stirbt ein Men­sch im Laufe seines Lebens mitunter viele Male. Was es möglich macht, dass er sich selb­st über­lebt, ist die Sol­i­dar­ität mit Wegge­fährten, die in ihrem Han­deln nicht auf das Gesetz beschränkt bleiben.

Olga Tokar­czuk: Anna In. Eine Reise zu den Katakomben der Welt, Kam­pa Pock­et 2024, ISBN 978 3 311 15055 8.

Die Postkarte

Spannende Recherche der jüdischen Familiengeschichte

Die Autorin Anne Berest erforscht in diesem Buch ihre eigene Fam­i­liengeschichte. Im Mit­telpunkt ste­ht ihre Groß­mut­ter, die sich als einzige ihrer in Frankre­ich inte­gri­erten Fam­i­lie der Ver­schlep­pung franzö­sis­ch­er Behör­den in deutsche Ver­nich­tungslager entziehen kon­nte. Sehr ein­fühlsam, voller per­sön­lich­er Emo­tion, authen­tisch auch durch zahlre­iche Quel­lenangaben schildert Anne Berest die andauernde Diskri­m­inierung und Ver­fol­gung jüdis­ch­er Mit­bürg­er, entsprechend der Aus­sage ihrer Groß­mut­ter zu ihren Eltern und Geschwis­tern „Ich darf sie nicht vergessen, son­st gibt es nie­man­den mehr, der sich daran erin­nert, dass sie gelebt haben“ (S.536). Vor den mehrfachen Vertrei­bun­gen und der Ver­nich­tung wäre die Fam­i­lie in Palästi­na geschützt gewe­sen (der entschei­dende Grund zur Grün­dung Israels). Das Buch ist auch ein span­nend geschriebenes Geschichts­buch: der Leser erfährt bis­lang wenig Bekan­ntes zu den anti­semi­tis­chen Maß­nah­men der franzö­sis­chen Behör­den nach 1940, aber auch zum doch wirk­samen Net­zw­erk der Résis­tance. Es spricht für die franzö­sis­che Gesellschaft, dass dieser aut­ofik­tionale Roman seit seinem Erscheinen im Sep­tem­ber 2021 auf den Best­sellerlis­ten ste­ht. Eine Auseinan­der­set­zung mit der Geschichte, gar ein Ver­ant­wortlich­w­er­den, zumin­d­est die notwendi­ge Erin­nerung zur Mah­nung find­et dem­nach auch in Frankre­ich statt.

Anne Berest: Die Postkarte, 539 Seit­en, Berlin Ver­lag, Berlin/München 2023, ISBN: 9783827014641, 28 €

Der neue Gereon-Rath-Roman

Schon sehr viel weiter als die Babylon Berlin Verfilmung: der 9. Gereon Rath Roman

Die erfol­gre­iche, auf zehn Bände angelegte Berlin Krim­i­nal­ro­man-Rei­he ist inzwis­chen schon im Jahr 1937 angekom­men. Ungewöhn­lich an diesem Band ist zum einen, dass gegenüber dem Vor­läufer „Olympia“ ein Zeit­sprung zurück erfol­gt. Gere­on Rath, der ehe­ma­lige Krim­i­nalkom­mis­sar hält sich noch unter falschem Namen in Wies­baden auf bevor er dann mit dem Luftschiff „Hin­den­burg“ nach New York reist, dort den Absturz über­lebt. Der Großteil des Romans spielt aber in Berlin, Char­lotte Rath klärt Morde auf, taucht in das Nachtleben ein, sorgt sich um ihren Pflege­sohn. Wieder gelin­gen dem Autor tre­f­fende Milieuschilderun­gen des von den Nazis beherrscht­en Berlins, ein­drück­liche, par­al­lel ver­laufende Hand­lungsstränge, sog­ar humor­volle Dialoge. Und es bleibt bis zum Schluss span­nend, schon wird die Spur zur Fort­set­zung gelegt. Gere­on Rath kehrt, nach­dem er seinen alten Wider­sach­er Mar­low aus­geschal­tet, hat mit dem Schiff nach Europa zurück.

Volk­er Kutsch­er: Transat­lantik, 488 Seit­en, Hard­cov­er mit Schutzum­schlag, Piper Ver­lag, München 2022, 978–3‑492–07177‑2, 26,00 € (D)

Mascha Kaléko — Suche nach Heimat

In diesem Roman set­zt Indra Maria Janos der pop­ulären Lyrik­erin Mascha Kaléko ein ein­fühlsam erzähltes Denkmal und gibt dadurch auch ein far­biges Porträt Berlins in den 1920er und 30er Jahre. Es beschränkt sich im wesentlichen auf die Zeit Kalékos in Berlin, obwohl ihre Suche nach Heimat schon nach der Flucht aus Gal­izien begann, die über Frank­furt und Mar­burg nach Berlin führte. Dort fand sie ihre Heimat, war als Autorin erfol­gre­ich, ging Ehen ein, gebar einen Sohn, bis sie als Jüdin von den NS-Herrschaft immer mehr eingeschränkt 1938 in die USA emi­gri­eren kon­nte. Schon 1944 wurde sie US-Bürg­erin, lebte in Israel, besuchte ein let­ztes Mal 1974 Berlin und starb auf dem Rück­weg in Zürich. Die Autorin dieser Roman­bi­ografie lässt sich von eini­gen der her­aus­ra­gen­den auto­bi­ografisch geprägten Gedichte Kalékos anre­gen. So gelingt in diesem Buch ein mitreißen­des Miter­leben von Mascha Kalékos doch nur manch­mal leuch­t­ende Jahre in Berlin (wo natür­lich das Urban-Kranken­haus in Kreuzberg und nicht in Kreuzbach ste­ht – siehe der Druck­fehler auf S. 184).

Indra Maria Janos: Suche nach Heimat — Mascha Kalékos leuch­t­ende Jahre, 368 Seit­en, dtv Ver­lag, München 2022, ISBN: 978–3‑423–26341‑2, EUR 16,95 [DE]

Arbeiten am Geheimnis der Welt

Zum 80. Geburtstag von Peter Handke

Während der Pro­tag­o­nist, “an dem Geheim­nis der Welt [arbeit­en]” (91) möchte, nimmt die Für­sorge für das eigene Kind seine ganze Aufmerk­samkeit in Beschlag. Doch in der Beziehung zu seinem Kind erfährt der Pro­tag­o­nist Momente, in denen das Geheim­nis der Welt spür­bar wird. Von dieser Diskrepanz zwis­chen Fak­tiz­ität und Tran­szen­denz han­delt Peter Hand­kes Erzäh­lung “Kindergeschichte”.

Die Erzäh­lung beschreibt die ersten zehn Jahre der Beziehung eines Vaters zu sein­er Tochter. Wed­er der Vater noch die Tochter wer­den namentlich genan­nt, auto­bi­ografis­che Details lassen jedoch ver­muten, dass es sich um die Beziehung Hand­kes zu sein­er Tochter Ami­na han­delt. 

Obwohl Hand­ke auto­bi­ografisch schreibt, bleibt die Erzäh­lung nicht auf Hand­kes sub­jek­tive Lebenswirk­lichkeit beschränkt. Auf­fäl­lig ist, dass der Erzäh­ler sich selb­st als ‚der Erwach­sene‘ und seine Tochter als ‚das Kind‘ beze­ich­net. Auch Orte und Städte wer­den nicht namentlich genan­nt. Dadurch wird ein gewiss­es Abstrak­tion­sniveau erre­icht.

Faktizität und Transzendenz in der Beziehung zwischen Vater und Kind

Der Erzäh­ler verbindet mit dem Gedanken an ein Kind „die Vorstel­lung von ein­er wort­losen Gemein­schaftlichkeit, von kurzen Blick­wech­seln, […] von Nähe und Weite in glück­lich­er Ein­heit“ (7). Man kann in den Begrif­f­en Nähe und Weite eine Rem­i­niszenz an die zuvor genan­nten Begriffe Fak­tiz­ität und Tran­szen­denz erken­nen. Die Fak­tiz­ität, sich um das eigene Kind küm­mern zu müssen, schließt Nähe ein. Die Entschei­dung der Mut­ter, für einige Zeit wegzuge­hen, um in ihrem Beruf neu anz­u­fan­gen, schließt eine solche Nähe aus und kommt in den Augen des Pro­tag­o­nis­ten einem Mis­sacht­en der fak­tis­chen Wirk­lichkeit gle­ich: „War die Verpflich­tung ‚Kind‘ nicht das Natür­liche, Sin­n­fäl­lige, Ein­leuch­t­ende, zu dem es nicht ein­mal eine Frage geben durfte? War nicht jede noch so wun­der­bare Leis­tung, die erkauft war mit dem Ver­leug­nen des Offenkundi­gen, der einzig verbinden­den Wirk­lichkeit, von vorn­here­in unehren­haft und ungültig?“ (46/47)

Allerd­ings geht die Beziehung des Vaters zu seinem Kind über die zuvor genan­nte Fak­tiz­ität hin­aus. Der Erzäh­ler beze­ich­net diese Ebene als Glauben: „Ohne je eine Mei­n­ung zu ‚Kindern‘ im all­ge­meinen gehabt zu haben, glaubte er eben an dieses bes­timmte Kind.“ (63) Der Glaube über­schre­it­et die fak­tis­che Wirk­lichkeit. Es gibt hier eine Nähe zwis­chen Vater und Kind, die nicht an die Fak­tiz­ität gebun­den bleibt, son­dern auf die Weite der Tran­szen­denz hin­ausweist.

Diesen Glauben an das eigene Kind kon­trastiert der Erzäh­ler durch den Begriff des Zweifelns (65). Der Zweifel ist an die Fak­tiz­ität gebun­den. Konkret zweifelt der Pro­tag­o­nist an der sozialen Kom­pe­tenz seines Kindes. Im Umgang mit Gle­ichal­tri­gen stellt sich das Kind beson­ders ungeschickt an. Der Umzug in einen frem­den Sprachraum, in dem anti­deutsche Ressen­ti­ments spür­bar sind, vere­in­facht dieses Prob­lem nicht. Für den Pro­tag­o­nis­ten ist es eine kon­flik­tre­iche Erwä­gung, ob das Kind den­noch unter Altersgenossen am besten aufge­hoben sei: „Waren dem­nach erst die ‚Artgenossen‘ die eigentlichen Ange­höri­gen, und die Erwach­se­nen im besten Fall bloße Sorge­berechtigte?“ (60) 

Das Geheimnis der Welt

Eine Auflö­sung erfährt dieser Kon­flikt zwis­chen Glauben und Zweifeln in einzel­nen Momenten, in denen so etwas wie das “Geheim­nis der Welt” spür­bar wird. Beispiel­sweise beschreibt der Erzäh­ler einen Aus­flug, den der Pro­tag­o­nist mit ein­er Gruppe von Kindern, zu denen auch das eigene Kind gehört, untern­immt (70f.). Im Zuge dessen erfährt sich der Pro­tag­o­nist nicht nur als Auf­sichtsper­son, son­dern als selb­stver­ständlich­er Teil der Gruppe. Auch das eigene Kind ist ohne Prob­leme inte­gri­ert. Die Stra­pazen der Wan­derung sind geteilte Stra­pazen, welche die Gruppe zusam­men­schweißen. Im Erleb­nis dieser Ein­heit und Gemein­schaftlichkeit erfährt sich die Gruppe als ein einziger Organ­is­mus. Mit anderen Worten ver­weist dieses Erleb­nis auf eine tran­szen­dente Har­monie und appel­liert an die men­schliche Fähigkeit zum Glauben an das “Geheim­nis der Welt”. 

Peter Hand­ke: Kindergeschichte, Suhrkamp 1981, ISBN 3–518-03016–7.

James Joyce & Company — Über die Buchhändlerin und Verlegerin Sylvia Beach

Diese Roman­bi­ogra­phie erzählt das Leben von Sylvia Beach, ein­er jun­gen Amerikaner­in in Paris. Ihre in den 1920er Jahren gegrün­dete Buch­hand­lung “Shake­speare & Com­pa­ny” wurde leg­endär als Tre­ff­punkt der Intellek­tuellen dieser Zeit. Hem­ing­way, Gide, Valéry und Gertrude Stein gin­gen hier ein und aus. Beson­dere Ver­di­en­ste hat sich Beach um James Joyce erwor­ben. Sie unter­stütze ihn in vielfach­er Weise und wagte nach Abdruck einzel­ner Episo­den die voll­ständi­ge Pub­lika­tion seines umstrit­te­nen Romans Ulysses.

Im Jahr 2022 wird an den 140. Geburt­stag James Joyces, des wohl bedeu­tend­sten irischen Autors der Mod­erne, und an das 100. Jubiläum der Erstveröf­fentlichung von Ulysses erin­nert.
Joyce beschrieb einen einzi­gen Tag eines Dublin­er Som­mers — den 16. Juni 1904. Es war der Tag, an dem er zum ersten Mal mit Nora Bar­na­cle spazieren gegan­gen war, die seine Gefährtin fürs Leben wer­den sollte. Er ord­nete seine Erzäh­lung um Episo­den aus Homers “Odyssee” an. Durch die Details aus der “Odyssee”, die er ver­wen­dete, ver­band er in iro­nis­ch­er Absicht das Epis­che mit dem Gewöhn­lichen.

Sehr anschaulich und ein­fühlsam schildert die Autorin das Erleben Beachs in dieser Zeit, auch ihre enge Beziehung zu ihrer Lebenspart­ner­in, die noch vor Shake­speare & Co. eine Buch­hand­lung mit französich­sprachiger Lit­er­atur gegrün­det hat­te, gle­ich­falls ein intellek­tueller Tre­ff­punkt. Das infor­ma­tive Nach­wort legt den Schw­er­punkt auf die Entste­hung des Buch­es und dem weit­eren Leben der Pro­tag­o­nistin­nen.

Ker­ri Maher: Die Buch­händ­lerin von Paris, Roman, 391 Seit­en, Klap­pen­broschur, insel taschen­buch 493, Insel Ver­lag, Berlin 2022, ISBN 3978–3‑458–68233‑2, 16 €.

“… es kommt aber darauf an, die Welt zu verändern”

Was hat eigentlich die Pro­tag­o­nistin in Zora del Buonos Roman “Die Marschallin” mit der roten Zora aus dem Jugend­buch von Kurt Held gemein­sam?

Die rote Zora als Gefährtin im Geiste

Die rote Zora ist bekan­nt aus dem Jugend­buch “Die rote Zora und ihre Bande”. Zusam­men mit ein­er Gruppe von Waisenkindern schlägt sie sich in einem kroat­is­chen Küstenort durch. Was die zusam­mengewür­felte Bande zusam­men­schweißt, ist ihre Sol­i­dar­ität füreinan­der. Aber die Kinder haben auch Für­sprech­er unter den Dorf­be­wohn­ern und treten mit ihnen gemein­sam für soziale Gerechtigkeit ein.

Im Roman “Die Marschallin” von Zora del Buono heißt die Pro­tag­o­nistin eben­falls Zora, sie ist die Groß­mut­ter der Autorin. Diese Zora hat einiges mit Kurt Helds Ban­de­nan­führerin gemein­sam. Bei­de stam­men aus dem Gebi­et, das ein­mal Jugoslaw­ien war, und bei­de mussten als Kinder den Ver­lust ihrer Mut­ter verkraften. Vielle­icht wurde ger­ade durch diese Erfahrung das Tal­ent zur Anführerin geweckt. Nicht zufäl­lig trägt der Roman von Zora del Buono den Titel “Die Marschallin”, denn die Groß­mut­ter der Autorin, die eben­falls Zora Del Buono (allerd­ings mit großem “Del”) heißt, behielt stets das Kom­man­do über ihre Fam­i­lie — sowohl über ihre vier Brüder als auch über ihre drei Söhne. Dieses Kom­man­do ging so weit, dass Zora die Schwiegertöchter für ihre Söhne aus­suchte. Das Kri­teri­um, das ihr dabei als Richtschnur diente, war, dass die Schwiegertöchter selb­st keine Müt­ter haben soll­ten. Zora war von einem grund­sät­zlich­es Mis­strauen gegenüber Frauen geprägt und wollte das weib­liche Per­son­al ihrer Fam­i­lie ger­ing hal­ten.

Genossen unter sich

Karl Marx und Friedrich Engels © Sophia Höff

Zur Bande von Zora Del Buono gehörten solche kom­mu­nis­tis­chen Grün­dungs­fig­uren wie Anto­nio Gram­sci und Josip Broz Tito. Zora war eine glühende Kom­mu­nistin. Diese Pas­sion für den Kom­mu­nis­mus teilte sie mit ihrem Ehe­mann, dem sizil­ian­is­chen Radi­olo­gen Pietro Del Buono. Die bei­den lern­ten sich 1919 in der slowenis­chen Stadt Bovec im Soča-Tal ken­nen. Nach dem ersten Weltkrieg gehörte dieser Teil der ehe­ma­li­gen K.-u.-k-Monarchie zu Ital­ien.

Einige Zeit ver­bracht­en Zora und Pietro zusam­men mit ihren Söh­nen in Berlin, wo Pietro an der Char­ité beschäftigt war. Die meiste Zeit über lebten die Del Buonos jedoch in der südi­tal­ienis­chen Stadt Bari, wo Zora eigens ein Palaz­zo ent­warf, das sowohl als Res­i­denz wie auch als radi­ol­o­gis­che Klinik fungierte. Während ihr Mann also im Untergeschoss eine Klinik betrieb, beschäftigte sich Zora im Obergeschoss damit, das Schick­sal ihrer Fam­i­lie zu spin­nen.

Glanzzeiten und Schicksalsjahre

Ein Einzelschick­sal ist nicht ohne die Zeit­geschichte zu denken. So sind die Ereignisse im Leben der Buonos eng mit den poli­tis­chen Umwälzun­gen ihrer Zeit ver­woben. Während des ital­ienis­chen Faschis­mus sym­pa­thisierten Zora und Pietro mit den Par­ti­sa­nen und ein beson­deres Ereig­nis war der Besuch Titos im Palaz­zo der Fam­i­lie. Um diesen Besuch und eine ver­meintliche Krankheit Titos rankt sich eine gern tradierte Fam­i­lien­anek­dote.

Für den Roman wird aber ein anderes Datum zu einem Kristalli­sa­tion­spunkt. Am 24. Juli 1948 ereignete sich ein Ver­brechen, in das die Del Buonos ver­strickt waren. Für Zora Del Buono resul­tierte daraus ein Schuldge­fühl, das sie bis zu ihrem Tod ver­fol­gte. 1948 war auch das Jahr, in dem die Del Buonos aus der Kom­mu­nis­tis­chen Partei Ital­iens aus­geschlossen wur­den. Das Großbürg­er­tum war for­t­an nicht mehr als Parteim­it­glied gefragt.

Sozial­is­tis­che Glas­malerei im ehe­ma­li­gen Staat­srats­ge­bäude der DDR © Sophia Höff

Der let­zte Teil des Romans wird in Form eines Monologs der Groß­mut­ter erzählt. Zora Del Buono lebte bis zu ihrem Tod 1980 in einem Senioren­wohn­heim in der Stadt Nova Gor­i­ca, Jugoslaw­ien. Von den mondä­nen Jahren in Bari scheint an ihrem Lebens­abend nicht viel geblieben zu sein. Auch den frühen Tod ihrer Söhne musste sie verkraften.

In einem schw­er nachvol­lziehbaren Gedanken­gang deutete sie den Tod ihrer Söhne als Strafe ein­er höheren Macht. Aus dem Schuld­beken­nt­nis, für den Tod der Söhne ver­ant­wortlich zu sein, spricht eine Selb­stüber­schätzung, aber zugle­ich ein Bewusst­sein für das eigene Scheit­ern. Das Schick­sal ist nicht zu steuern und unter­wirft sich auch nicht dem Dik­tat ein­er Marschallin.

Ein starkes Porträt

Der Roman “Die Marschallin” zeich­net im Kern das Porträt ein­er wil­lensstarken und res­oluten Frau, deren Biografie jedoch Brüche und Wider­sprüche offen­bart, die sie zu ein­er ein­drucksvollen Zeitzeu­g­in des 20. Jahrhun­derts machen.

Zora del Buono: Die Marschallin, C. H. Beck 2020, ISBN: 978–3‑406–75482‑1, gebun­den, 24 Euro.

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