Magazin für Kultur

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Das Abenteuer des großen Meaulnes

Der Roman “Der große Meaulnes” von Hen­ri Alain-Fournier erzählt von der Sehn­sucht nach einem “ver­lore­nen Land”, in dem sich erfüllen würde, was der Titel­held, Augustin Meaulnes, am meis­ten begehrt.

Erzählt wird die Geschichte von Meaulnes’ bestem Fre­und, dem anfangs 15-jähri­gen François Seurel. Gemein­sam gehen sie auf eine von Seurels Eltern geleit­ete Schule in der fik­tiv­en Kle­in­stadt Sainte-Agathe, in der zen­tral­franzö­sis­chen Sologne. Meaulnes kam neu in die Klasse, gibt jedoch schnell den Ton an und wird von allen nur “der große Meaulnes” genan­nt. Die von Wäldern und Seen geprägte Land­schaft der Sologne nährt die Aben­teuer­lust der Jugendlichen. Die Klassenkam­er­aden von Seurel und Meaulnes touren mit dem Fahrrad über die Land­straße oder schle­ichen sich hin­aus in den Wald, um Grün­spechtnester auszuheben. Doch keines dieser Aben­teuer kommt an das her­an, das der große Meaulnes erlebt hat:

Meaulnes’ Aben­teuer ereignete sich in jen­em “ver­lore­nen Land”, das for­t­an zum Kristalli­sa­tion­spunkt all sein­er Wün­sche und Bestre­bun­gen wird. Eines Nachts fand er sich nach einem miss­lun­genen Stre­ich an einem namen­losen Schloss wieder, ohne zu wis­sen, wie er dor­thin gelangt war. Ehe er sich’s ver­sah, war er Gast eines wun­der­samen Kostüm­festes. Sog­ar ein Kostüm lag für ihn bere­it. Es war ein Ort der Ein­tra­cht und der Abgeschieden­heit, an dem Fremde sich als Fre­unde begeg­neten und die Welt um sich herum ver­gaßen: “Unter diesen Tis­chgenossen war nie­mand, in dessen Gegen­wart sich Meaulnes nicht wohl gefühlt und dem er nicht ver­traut hätte.” (82) Die Begeg­nung mit einem schö­nen Mäd­chen namens Yvonne de Galais, der Tochter des Schlossh­er­rn, wird für Meaulnes zu ein­er Offen­barung des Glücks. Obwohl dieses Glück zum Greifen nahe schien, entzieht es sich ihm doch und es bleibt nur eine Erin­nerung: “Mit welch­er Erre­gung dachte Meaulnes später an die Minute, in der am Ufer des Teich­es das seit­dem ver­loren gegan­gene Gesicht des Mäd­chens dem seinen so nahe gewe­sen war!” (93f.)

Abrupt ist das Fest zu Ende und Meaulnes zurück in Sainte-Agathe. Zwis­chen Wehmut nach dem Ver­lore­nen und Sehn­sucht nach Erfül­lung ver­sucht Meaulnes das ver­wun­sch­ene Schloss und die junge Schlossh­er­rin wiederzufind­en. Doch das “ver­lorene Land” ist auf kein­er Karte eingeze­ich­net. Es ist schließlich sein Schul­fre­und Seurel, der Meaulnes eine Möglichkeit eröffnet, an die er nicht mehr zu glauben gewagt hat. Doch kann das Glück, das ein­mal möglich zu sein schien, Wirk­lichkeit wer­den, nach­dem es bere­its ver­loren war? Meaulnes fühlt die Dis­tanz, die ihn von sein­er Ver­gan­gen­heit tren­nt: “Aber inzwis­chen bin ich überzeugt, dass ich, als ich das namen­lose Schloss ent­deck­te, in einem Zus­tand solch­er Vol­lkom­men­heit und Rein­heit war, wie ich ihn nie mehr erre­ichen werde.” (222) Klar ist, dass das Aben­teuer, in das Meaulnes hineinger­at­en war, längst nicht zu Ende ist. Das “ver­lorene Land” wartet darauf, in der Zukun­ft wieder­ent­deckt zu wer­den.

Hen­ri Alain-Fournier: Der große Meaulnes, Thiele Ver­lag 2014, ISBN: 978–3‑85179–317‑8.

Der andere Impressionismus

Inter­na­tionale Druck­graphik von Manet bis Whistler

Dieses her­aus­ra­gende Kat­a­log­buch zur aktuellen Ausstel­lung im Kupfer­stichk­abi­nett Berlin und im Bar­beri­ni Pots­dam (24. Sep­tem­ber 2024 bis 12. Jan­u­ar 2025) begeis­tert weil es mehr bietet als die Ausstel­lung selb­st. Durch die Möglichkeit, diesen Höhep­unk­ten der Grafik-Kun­st ein­er ver­tieften Betra­ch­tung zukom­men zu lassen, gibt es nur in diesem Buch (in den bei­den Ausstel­lun­gen kann man diesen meist kle­in­for­mati­gen Werken nicht näher treten, zudem muss oft stel­len­weise ein Lichtschutz abgenom­men wer­den). Diese Ausstel­lun­gen machen bewusst, dass es auch in der Grafik schon früh impres­sion­is­tis­che Strö­mungen gab (früher als in der ersten Impres­sion­is­ten Ausstel­lung im Jahr 1874, die jet­zt der Anlass für das 150jährige Jubiläum ist). Son­nenaufgänge, Seerosen, far­bige Licht- und Schat­ten­ef­fek­te. Fast jed­er hat eine Vorstel­lung davon, was ein impres­sion­is­tis­ches Bild aus­macht. In der inter­na­tionalen Druck­grafik sind atmo­sphärische Phänomene – von blenden­der Sonne über Regen, Dun­st bis hin zu Smog – gle­ich­falls häu­figer Gegen­stand: Auch Maler­radier­er haben zum Teil direkt vor der Natur und mit der für diesen Stil charak­ter­is­tis­chen Spon­tan­ität Werke von hoher kün­st­lerisch­er Indi­vid­u­al­ität entste­hen lassen, in denen die Welt neu gese­hen wird. Über­ar­beitun­gen machen aus jedem Abzug ein Orig­i­nal.
Das Berlin­er Kupfer­stichk­abi­nett präsen­tiert 110 sel­ten oder nie gezeigte grafis­che Blät­ter von 40 Kün­st­lerin­nen und Kün­stlern, darunter so berühmte Namen wie Édouard Manet, Auguste Renoir, Mary Cas­satt, James Whistler und Less­er Ury. Let­zter­er wird zusam­men mit Anders Zorn und Franz Skarbina schließlich auch noch zum Impres­sion­is­mus gezählt, zeitlich gewagt, aber von der Gestal­tung und Wirkung dur­chaus berechtigt.

Der andere Impres­sion­is­mus – Inter­na­tionale Druck­graphik von Manet bis Whistler, 208 Seit­en, 147 Farb- und 3 sw-Abbil­dun­gen, Michael Imhof Ver­lag, Peters­berg 2024, ISBN: 978–3‑7319–1433‑4 , 29,95 €

Verdienstvolle Würdigung wenig bekannter Architekten

Die Architek­turhis­torik­erin Ulrike Eich­horn leis­tet mit ihren Mono­grafien zum Wirken bekan­nter Architek­ten in Berlin ver­di­en­stvolle Arbeit und wen­det sich jet­zt zusam­men mit dem Autor Klaus Dettmer den weniger bekan­nten Architek­ten zu, die u.a. im Berlin­er Nor­den zahlre­iche Baut­en hin­ter­lassen haben. Dieses han­dliche Buch eignet sich für Architek­tur­rundgänge, führt in die Geschichte der Architek­tur auf dem Weg in die Mod­erne ein und führt in die so unter­schiedlichen Lebenswege u.a. der Architek­ten Paul Baum­garten, Wern­er Issel, Gus­tav Lilien­thal, Eugen Schmohl, Jean Krämer, Her­mann Blanken­stein, Mar­tin Punitzer und Bruno Buch ein (die für Ken­ner der Architek­turgeschichte, ins­beson­dere der Indus­triekul­tur so unbekan­nt nicht sind). Die Einen­gung im Titel auf Reinick­endorf ist etwas irreführend und erschw­ert das weit­ere Bekan­ntwer­den dieser ver­di­en­stvollen Neuer­schei­n­ung, geht es doch um „Schöpfer…, die nicht nur in Reinick­endorf, son­dern in ganz Berlin ihre Spuren hin­ter­ließen und die Stadt maßge­blich gestal­teten.“ (S. 5) – wie die Bezirks­bürg­er­meis­terin richtig in ihrem Gruß­wort schreibt. Grund­lage ist die Lan­des­denkmalliste. Das Buch enthält 16 Biografien und Werkverze­ich­nisse, schließt mit einem bestens recher­chierten Lit­er­aturverze­ich­nis, das sel­ten in einem Region­alar­chitek­tur­führer zu find­en ist.

Ulrike Eichhorn/Klaus Dettmer: Im Schat­ten bekan­nter Baumeis­ter: Auf dem Weg in die Mod­erne in Reinick­endorf, 134 Seit­en, 72 Abbil­dun­gen, 6 Über­sicht­spläne, Soft­cov­er, Edi­tion Eich­horn, Berlin 2024, ISBN 978–3‑759870–62‑9, 19,99 €.

Denis Schecks tiefe Einsichten zum Lesen

Lit­er­aturkri­tik­er Denis Scheck gibt in seinem neuen Buch einen Rück­blick über die SPIEGEL-Best­sellerlis­ten der let­zten 20 Jahre. Man kann sich fra­gen: Welchen Sinn hat das außer Ärg­er über die Verkauf­ser­folge von Büch­ern, die Aus­druck des Mas­sen­geschmacks sind (wie Scheck immer wieder betont)? Tat­säch­lich ist es aber ein reizvoller Rück­blick auf die let­zten 20 Jahre, denn die Best­sellererfolge spiegeln Entwick­lun­gen in der Gesellschaft und immer wieder gelingt aus nicht nachvol­lziehbaren Grün­den guten Büch­ern der Sprung in die Best­sellerlis­ten (das sind dann von Scheck begrün­dete Leseempfehlun­gen). Scheck bre­it­et seine wirk­lich umfassende All­ge­mein­bil­dung aus (wie ist ein so großes Lesevol­u­men zu schaf­fen?), ver­mit­telt inter­es­sante Infor­ma­tio­nen zum Entste­hen von Best­sellerlis­ten, vor allem aber gibt er pro­fund begrün­dete Antworten auf diese Fra­gen: Kön­nen Büch­er Trost spenden? Lesen Büch­er ihre Leser? Kön­nen Büch­er Fre­unde sein? Tau­gen Büch­er als Ther­a­pie? Zählen Geschichts­büch­er zur Lit­er­atur? Was erzählen Büch­er über die Natur? Leben Lesende Länger? Wie verän­dern Büch­er unser Leben? Machen uns Büch­er zu besseren Men­schen? Warum sind so viele Büch­er Krim­is? Sind Büch­er Zeit­maschi­nen? Stiften Büch­er Werte? Sind Büch­er Spiegel oder Fen­ster? Kann man aus Büch­ern lieben ler­nen? Kön­nen Büch­er die Zukun­ft vorher­sagen? Ret­ten Büch­er Leben?

Denis Scheck: Schecks Best­seller Bibel – Schätze und Schund aus 20 Jahren, Piper Ver­lag, München 2024, 432 Seit­en, Hal­bleinen­band, EAN 978–3‑492–07294‑6, 28.00 €.

Treffendes Zeitpanorama

Die Krim­i­nal­ro­mane um Kom­mis­sar Gere­on Rath, die mit diesem zehn­ten Band ihren Abschluss find­en, sind vor allem deshalb sehr lesenswert, weil sie nicht nur span­nende Hand­lun­gen, tre­f­fende Per­so­n­en- und Milieubeschrei­bun­gen bieten, son­dern Zeit­panora­men bieten, deutsche Zeit­geschichte erleb­bar machen. Über­wiegend spie­len die Romane in Berlin, das ken­nt­nis­re­ich und pointiert geschildert wird („Stadt voller unge­ho­bel­ter Ego­is­t­en…“ S. 134). Die Buchrei­he begann zum Ende der Weimar­er Repub­lik und endet jet­zt mit der aus mehreren Per­spek­tiv­en geschilderten Pogrom­nacht Novem­ber 1939, der erste Höhep­unkt der Juden­ver­fol­gun­gen. Das Wesen des NS-Ter­rorsys­tem wird in fast allen Begeg­nun­gen und Hand­lungssträn­gen des Romans erleb­bar, insofern ist er keine angenehme Lek­türe, wenn auch sel­tene Glücksmo­mente (wie das Leben in Ade­nauers Fam­i­lie oder die Fre­und­schaft Friedrichs mit einem Jun­gen aus jüdis­ch­er Fam­i­lie) geschildert wer­den und manche beson­ders bru­tale NS-Amt­sträger gerächt wer­den. Volk­er Kutsch­ers Romane bilden die Grund­lage für die  Kult­serie „Baby­lon Berlin“. Die Sky- und ARD-Serie gilt als eine der erfol­gre­ich­sten deutschen Fernseh­pro­duk­tio­nen, ist aber weit reißerisch­er, ent­fer­nt sich oft von den so gelun­genen Roman­vor­la­gen.

Volk­er Kutsch­er: Rath, 624 Seit­en, Hard­cov­er mit Schutzum­schlag  Piper Ver­lag, München, Okto­ber 2024, EAN 978–3‑492–07410‑0, 26.00  €.

Der andere Impressionismus

Dieses her­aus­ra­gende Kat­a­log­buch zur aktuellen Ausstel­lung im Kupfer­stichk­abi­nett Berlin und im Bar­beri­ni Pots­dam (24. Sep­tem­ber 2024 bis 12. Jan­u­ar 2025) begeis­tert, weil es mehr bietet als die Ausstel­lung selb­st. Die Möglichkeit, diesen Höhep­unk­ten der Grafik-Kun­st eine ver­tiefte Betra­ch­tung zukom­men zu lassen, gibt es nur in diesem Buch (in den bei­den Ausstel­lun­gen kann man diesen meist kle­in­for­mati­gen Werken nicht näher treten, zudem muss oft stel­len­weise ein Lichtschutz abgenom­men wer­den). Diese Ausstel­lun­gen machen bewusst, dass es auch in der Grafik schon früh impres­sion­is­tis­che Strö­mungen gab (früher als in der ersten Impres­sion­is­ten Ausstel­lung im Jahr 1874, die jet­zt der Anlass für das 150jährige Jubiläum ist). Son­nenaufgänge, Seerosen, far­bige Licht- und Schat­ten­ef­fek­te. Fast jed­er hat eine Vorstel­lung davon, was ein impres­sion­is­tis­ches Bild aus­macht. In der inter­na­tionalen Druck­grafik sind atmo­sphärische Phänomene – von blenden­der Sonne, über Regen, Dun­st, bis hin zu Smog – gle­ich­falls häu­figer Gegen­stand: Auch Maler­radier­er haben zum Teil direkt vor der Natur und mit der für diesen Stil charak­ter­is­tis­chen Spon­tan­ität Werke von hoher kün­st­lerisch­er Indi­vid­u­al­ität entste­hen lassen, in denen die Welt neu gese­hen wird. Über­ar­beitun­gen machen aus jedem Abzug ein Orig­i­nal. Das Berlin­er Kupfer­stichk­abi­nett präsen­tiert 110 sel­ten oder nie gezeigte grafis­che Blät­ter von 40 Kün­st­lerin­nen und Kün­stlern, darunter so berühmte Namen wie Édouard Manet, Auguste Renoir, Mary Cas­satt, James Whistler und Less­er Ury. Let­zter­er wird zusam­men mit Anders Zorn und Franz Skarbina schließlich auch noch zum Impres­sion­is­mus gezählt, zeitlich gewagt, aber von der Gestal­tung und Wirkung dur­chaus berechtigt.

Der andere Impres­sion­is­mus – Inter­na­tionale Druck­graphik von Manet bis Whistler, 208 Seit­en, 147 Farb- und 3 sw-Abbil­dun­gen, Michael Imhof Ver­lag, Peters­berg 2024, ISBN: 978–3‑7319–1433‑4 , 29,95 € .

und Julia Kratzer

Über die Möglichkeit, sich selbst zu überleben

Wie oft stirbt ein Men­sch im Laufe seines Lebens? Und was ist nötig, damit er sich selb­st über­lebt? Diese Fra­gen the­ma­tisiert die pol­nis­che Lit­er­aturnobel­preisträgerin Olga Tokar­czuk in ihrem Roman “Anna In”.

Die Stadt, in der die Geschichte spielt, ist auf Ruinen erbaut, darunter liegen die Katakomben. Das sind zwei Wel­ten: Die Stadt ist die Welt der Leben­den und die Katakomben die Welt der Toten und der Dämo­nen. Um die Katakomben zu betreten, muss man ein ehernes Tor passieren. Ein­lass wird nur den­jeni­gen gewährt, die zum Tode bes­timmt sind. Doch stärk­er als durch die räum­liche Tren­nung, die durch das Tor versinnbildlicht wird, sind die bei­den Wel­ten durch ein unum­stößlich­es Gesetz voneinan­der getren­nt: Wer die Katakomben betritt, kehrt nicht mehr in die Stadt zurück. 

Eine Reise an die Grenzen des Seins

Zu Beginn des Romans ler­nen wir die Titel­heldin Anna In ken­nen, sie ist eine Göt­tin der Liebe und des Krieges und herrscht über die Stadt. Doch erzählt wird die Geschichte nicht von ihr, son­dern von ein­er Vielzahl ander­er Stim­men. Eine von ihnen ist Nina Šubur, die sich als “Ich-Jede” vorstellt, ein gewöhn­lich­er Men­sch. Sie ist eng mit Anna In befre­un­det. Gemein­sam brechen sie zu ein­er Reise auf, doch Anna In weigert sich, das Reiseziel zu ver­rat­en. So fol­gen sie den weit verzweigten met­al­lenen Pfeil­ern, auf denen die Stadt errichtet ist, und die die unter­schiedlichen Ebe­nen der Stadt zusam­men­hal­ten. Aufzüge und Trep­pen­spi­ralen verbinden die Stadt­teile miteinan­der. Es gibt auch Rikschas, von stum­men Rikscha-Fahrern betrieben, die auf den Fahrsteigen dahin­ja­gen und rasch von Ebene zu Ebene sprin­gen kön­nen. Doch Anna In und ihre Fre­undin fol­gen dem labyrinthar­ti­gen Aufzugsys­tem. Mit ein­er Karte und einem Kom­pass aus­gerüstet, steigen sie in Aufzüge ein und wer­den ander­swo wieder aus­ge­spi­en, nur um bald in den näch­sten Aufzug umzusteigen. Über kurz oder lang stellt sich her­aus, wohin es Anna In zieht, näm­lich zu den Katakomben. Als sie am ehernen Tor zum Toten­re­ich ange­langt sind, berichtet Anna In, dass ihre Zwill­ingss­chwest­er, die Herrscherin des Toten­re­ichs, sie gerufen hat. Anna In hat die lei­d­volle Klage ihrer Schwest­er in ihrem Innern ver­nom­men: “Seit Tagen höre sie ihre Stimme, vielfach zurück­ge­wor­fen vom met­al­lenen Skelett der Stadt, wider­hal­lend in den Labyrinthen ihrer Ohren, der Ham­mer auf dem Amboss tönend wie eine Glocke.” (34) Es ist ein Rufen, dem sich Anna In nicht erwehren kann. Es ist der Ruf ihrer Schwest­er, der in ihr wider­hallt. Die Schwest­ern sind vere­int als Stimme und Res­o­nanzkör­p­er. Nina Šubur leuchtet diese beson­dere Verbindung ein: “Schwest­ern müssen schließlich eine Verbindung spüren, müssen sich ver­ste­hen […].” (35) Und so fol­gt Anna In dem Ruf ihrer Schwest­er und ver­schafft sich gebi­eter­isch Zugang zu den Katakomben.

Zwischen Kühnheit und Leichtsinn

Die Kühn­heit, mit der Anna In Ein­lass zum Toten­re­ich fordert, verblüfft nicht nur den Tor­wächter. “Weißt du auch, was du da tust?”, fragt dieser, nach­dem er sie ein­ge­lassen hat, und wird für einen kurzen Moment von dem Drang über­man­nt, “dieses leichtsin­nige junge Ding zu pack­en und wieder vor die Tür zu befördern” (41). Anna In hat das Toten­re­ich betreten, ohne zum Tode bes­timmt zu sein. Über die Kon­se­quen­zen ihres Han­delns scheint sie sich keine Gedanken zu machen. Der Tor­wächter fragt sich stumm: “Weiß sie, welche Strafe sie dafür erwartet? Es gibt keinen Weg zurück, sie ist so gut wie tot, das dumme Ding.” (47) Nimmt Anna In den Tod wil­lentlich in Kauf, um ihrer Schwest­er zu helfen? Diese Frage wird nicht ein­deutig beant­wortet. Es liegt aber nahe, dass sie sich eine solche Frage gar nicht gestellt hat. Es war das Näch­stliegende, der Schwest­er Bei­s­tand zu leis­ten; eine Verpflich­tung, die sie übern­immt, ohne darüber nachzu­denken. Dies wird ihr jedoch zum Ver­häng­nis.

Die Ein-Person-Rettungsaktion

Als Anna In nach drei Tagen nicht aus den Katakomben zurück­gekehrt ist, startet ihre Fre­undin Nina Šubur, die vor dem ehernen Tor gewartet hat, eine Ein-Per­son-Ret­tungsak­tion. Ihre Verzwei­flung wächst mit jedem Anlauf­punkt, den sie ans­teuert, und mit jedem Bittge­such, das abgelehnt wird. Sie wird bei Anna Ins Lieb­habern, Friseuren und Köchen vorstel­lig, ohne Hil­fe zu erhal­ten. Selb­st Anna Ins drei Göt­ter­väter weisen sie ab. Ein­er der Väter urteilt hart: “Sie aber, Anna In, ist nicht in der Lage sich anzu­passen. Sie ist asozial, agöt­tlich. Eine Diebin und Trinkerin. […] Eine Krawall­macherin.” (69) Am Ende beruft sich der Vater auf das Gesetz, das die Leben­den und die Toten voneinan­der schei­det: Nie­mand kann von den Katakomben in die Stadt zurück­kehren. “Ich kann sie nicht über das Gesetz stellen.” (69) Dieses Gesetz gle­icht der Schöp­fung­sor­d­nung: Was einen Anfang hat, muss auch ein Ende haben; was lebt, muss ein­mal ster­ben. Die Rück­kehr der Toten zu den Leben­den ist in der Schöp­fung­sor­d­nung nicht vorge­se­hen. Man kann dem Vater zugeste­hen, dass die Geset­zmäßigkeit­en der Schöp­fung nicht zur Dis­po­si­tion ste­hen.

Hier stellt sich die Frage, was die Fam­i­lie von Anna In zusam­men­schweißt. Ist es das Gesetz? Für Anna In selb­st spielte das Gesetz keine Rolle, als sie zu ihrer Schwest­er ins Toten­re­ich eilte. Das mag als unbeson­nen gel­ten: “Alles, was sie tut”, sagt ein ander­er der Göt­ter­väter, “tut sie unbeson­nen.” (61) Aber es ist auch ein Hin­weis darauf, dass es nicht das Gesetz ist, das die Schwest­ern miteinan­der verbindet. Vielmehr spürt Anna In eine intu­itive, unre­flek­tierte Verpflich­tung, der Schwest­er zu helfen. Eine Verpflich­tung, die das Gesetz mis­sachtet.

Eine neue Ordnung

Am Ende des Romans wird nicht das Gesetz das let­zte Wort haben. Stattdessen wird ein anderes Wort wichtig wer­den: Mitleid. Aus Mitleid wer­den manche der Pro­tag­o­nis­ten den Tod auf sich nehmen und aus Mitleid wird ihnen ein neues Leben geschenkt wer­den. In Tokar­czuks Roman stirbt ein Men­sch im Laufe seines Lebens mitunter viele Male. Was es möglich macht, dass er sich selb­st über­lebt, ist die Sol­i­dar­ität mit Wegge­fährten, die in ihrem Han­deln nicht auf das Gesetz beschränkt bleiben.

Olga Tokar­czuk: Anna In. Eine Reise zu den Katakomben der Welt, Kam­pa Pock­et 2024, ISBN 978 3 311 15055 8.

Die Postkarte

Spannende Recherche der jüdischen Familiengeschichte

Die Autorin Anne Berest erforscht in diesem Buch ihre eigene Fam­i­liengeschichte. Im Mit­telpunkt ste­ht ihre Groß­mut­ter, die sich als einzige ihrer in Frankre­ich inte­gri­erten Fam­i­lie der Ver­schlep­pung franzö­sis­ch­er Behör­den in deutsche Ver­nich­tungslager entziehen kon­nte. Sehr ein­fühlsam, voller per­sön­lich­er Emo­tion, authen­tisch auch durch zahlre­iche Quel­lenangaben schildert Anne Berest die andauernde Diskri­m­inierung und Ver­fol­gung jüdis­ch­er Mit­bürg­er, entsprechend der Aus­sage ihrer Groß­mut­ter zu ihren Eltern und Geschwis­tern „Ich darf sie nicht vergessen, son­st gibt es nie­man­den mehr, der sich daran erin­nert, dass sie gelebt haben“ (S.536). Vor den mehrfachen Vertrei­bun­gen und der Ver­nich­tung wäre die Fam­i­lie in Palästi­na geschützt gewe­sen (der entschei­dende Grund zur Grün­dung Israels). Das Buch ist auch ein span­nend geschriebenes Geschichts­buch: der Leser erfährt bis­lang wenig Bekan­ntes zu den anti­semi­tis­chen Maß­nah­men der franzö­sis­chen Behör­den nach 1940, aber auch zum doch wirk­samen Net­zw­erk der Résis­tance. Es spricht für die franzö­sis­che Gesellschaft, dass dieser aut­ofik­tionale Roman seit seinem Erscheinen im Sep­tem­ber 2021 auf den Best­sellerlis­ten ste­ht. Eine Auseinan­der­set­zung mit der Geschichte, gar ein Ver­ant­wortlich­w­er­den, zumin­d­est die notwendi­ge Erin­nerung zur Mah­nung find­et dem­nach auch in Frankre­ich statt.

Anne Berest: Die Postkarte, 539 Seit­en, Berlin Ver­lag, Berlin/München 2023, ISBN: 9783827014641, 28 €

Der neue Gereon-Rath-Roman

Schon sehr viel weiter als die Babylon Berlin Verfilmung: der 9. Gereon Rath Roman

Die erfol­gre­iche, auf zehn Bände angelegte Berlin Krim­i­nal­ro­man-Rei­he ist inzwis­chen schon im Jahr 1937 angekom­men. Ungewöhn­lich an diesem Band ist zum einen, dass gegenüber dem Vor­läufer „Olympia“ ein Zeit­sprung zurück erfol­gt. Gere­on Rath, der ehe­ma­lige Krim­i­nalkom­mis­sar hält sich noch unter falschem Namen in Wies­baden auf bevor er dann mit dem Luftschiff „Hin­den­burg“ nach New York reist, dort den Absturz über­lebt. Der Großteil des Romans spielt aber in Berlin, Char­lotte Rath klärt Morde auf, taucht in das Nachtleben ein, sorgt sich um ihren Pflege­sohn. Wieder gelin­gen dem Autor tre­f­fende Milieuschilderun­gen des von den Nazis beherrscht­en Berlins, ein­drück­liche, par­al­lel ver­laufende Hand­lungsstränge, sog­ar humor­volle Dialoge. Und es bleibt bis zum Schluss span­nend, schon wird die Spur zur Fort­set­zung gelegt. Gere­on Rath kehrt, nach­dem er seinen alten Wider­sach­er Mar­low aus­geschal­tet, hat mit dem Schiff nach Europa zurück.

Volk­er Kutsch­er: Transat­lantik, 488 Seit­en, Hard­cov­er mit Schutzum­schlag, Piper Ver­lag, München 2022, 978–3‑492–07177‑2, 26,00 € (D)

Mascha Kaléko — Suche nach Heimat

In diesem Roman set­zt Indra Maria Janos der pop­ulären Lyrik­erin Mascha Kaléko ein ein­fühlsam erzähltes Denkmal und gibt dadurch auch ein far­biges Porträt Berlins in den 1920er und 30er Jahre. Es beschränkt sich im wesentlichen auf die Zeit Kalékos in Berlin, obwohl ihre Suche nach Heimat schon nach der Flucht aus Gal­izien begann, die über Frank­furt und Mar­burg nach Berlin führte. Dort fand sie ihre Heimat, war als Autorin erfol­gre­ich, ging Ehen ein, gebar einen Sohn, bis sie als Jüdin von den NS-Herrschaft immer mehr eingeschränkt 1938 in die USA emi­gri­eren kon­nte. Schon 1944 wurde sie US-Bürg­erin, lebte in Israel, besuchte ein let­ztes Mal 1974 Berlin und starb auf dem Rück­weg in Zürich. Die Autorin dieser Roman­bi­ografie lässt sich von eini­gen der her­aus­ra­gen­den auto­bi­ografisch geprägten Gedichte Kalékos anre­gen. So gelingt in diesem Buch ein mitreißen­des Miter­leben von Mascha Kalékos doch nur manch­mal leuch­t­ende Jahre in Berlin (wo natür­lich das Urban-Kranken­haus in Kreuzberg und nicht in Kreuzbach ste­ht – siehe der Druck­fehler auf S. 184).

Indra Maria Janos: Suche nach Heimat — Mascha Kalékos leuch­t­ende Jahre, 368 Seit­en, dtv Ver­lag, München 2022, ISBN: 978–3‑423–26341‑2, EUR 16,95 [DE]

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