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Arbeiten am Geheimnis der Welt

Zum 80. Geburtstag von Peter Handke

Während der Pro­tag­o­nist, “an dem Geheim­nis der Welt [arbeit­en]” (91) möchte, nimmt die Für­sorge für das eigene Kind seine ganze Aufmerk­samkeit in Beschlag. Doch in der Beziehung zu seinem Kind erfährt der Pro­tag­o­nist Momente, in denen das Geheim­nis der Welt spür­bar wird. Von dieser Diskrepanz zwis­chen Fak­tiz­ität und Tran­szen­denz han­delt Peter Hand­kes Erzäh­lung “Kindergeschichte”.

Die Erzäh­lung beschreibt die ersten zehn Jahre der Beziehung eines Vaters zu sein­er Tochter. Wed­er der Vater noch die Tochter wer­den namentlich genan­nt, auto­bi­ografis­che Details lassen jedoch ver­muten, dass es sich um die Beziehung Hand­kes zu sein­er Tochter Ami­na han­delt. 

Obwohl Hand­ke auto­bi­ografisch schreibt, bleibt die Erzäh­lung nicht auf Hand­kes sub­jek­tive Lebenswirk­lichkeit beschränkt. Auf­fäl­lig ist, dass der Erzäh­ler sich selb­st als ‚der Erwach­sene‘ und seine Tochter als ‚das Kind‘ beze­ich­net. Auch Orte und Städte wer­den nicht namentlich genan­nt. Dadurch wird ein gewiss­es Abstrak­tion­sniveau erre­icht.

Faktizität und Transzendenz in der Beziehung zwischen Vater und Kind

Der Erzäh­ler verbindet mit dem Gedanken an ein Kind „die Vorstel­lung von ein­er wort­losen Gemein­schaftlichkeit, von kurzen Blick­wech­seln, […] von Nähe und Weite in glück­lich­er Ein­heit“ (7). Man kann in den Begrif­f­en Nähe und Weite eine Rem­i­niszenz an die zuvor genan­nten Begriffe Fak­tiz­ität und Tran­szen­denz erken­nen. Die Fak­tiz­ität, sich um das eigene Kind küm­mern zu müssen, schließt Nähe ein. Die Entschei­dung der Mut­ter, für einige Zeit wegzuge­hen, um in ihrem Beruf neu anz­u­fan­gen, schließt eine solche Nähe aus und kommt in den Augen des Pro­tag­o­nis­ten einem Mis­sacht­en der fak­tis­chen Wirk­lichkeit gle­ich: „War die Verpflich­tung ‚Kind‘ nicht das Natür­liche, Sin­n­fäl­lige, Ein­leuch­t­ende, zu dem es nicht ein­mal eine Frage geben durfte? War nicht jede noch so wun­der­bare Leis­tung, die erkauft war mit dem Ver­leug­nen des Offenkundi­gen, der einzig verbinden­den Wirk­lichkeit, von vorn­here­in unehren­haft und ungültig?“ (46/47)

Allerd­ings geht die Beziehung des Vaters zu seinem Kind über die zuvor genan­nte Fak­tiz­ität hin­aus. Der Erzäh­ler beze­ich­net diese Ebene als Glauben: „Ohne je eine Mei­n­ung zu ‚Kindern‘ im all­ge­meinen gehabt zu haben, glaubte er eben an dieses bes­timmte Kind.“ (63) Der Glaube über­schre­it­et die fak­tis­che Wirk­lichkeit. Es gibt hier eine Nähe zwis­chen Vater und Kind, die nicht an die Fak­tiz­ität gebun­den bleibt, son­dern auf die Weite der Tran­szen­denz hin­ausweist.

Diesen Glauben an das eigene Kind kon­trastiert der Erzäh­ler durch den Begriff des Zweifelns (65). Der Zweifel ist an die Fak­tiz­ität gebun­den. Konkret zweifelt der Pro­tag­o­nist an der sozialen Kom­pe­tenz seines Kindes. Im Umgang mit Gle­ichal­tri­gen stellt sich das Kind beson­ders ungeschickt an. Der Umzug in einen frem­den Sprachraum, in dem anti­deutsche Ressen­ti­ments spür­bar sind, vere­in­facht dieses Prob­lem nicht. Für den Pro­tag­o­nis­ten ist es eine kon­flik­tre­iche Erwä­gung, ob das Kind den­noch unter Altersgenossen am besten aufge­hoben sei: „Waren dem­nach erst die ‚Artgenossen‘ die eigentlichen Ange­höri­gen, und die Erwach­se­nen im besten Fall bloße Sorge­berechtigte?“ (60) 

Das Geheimnis der Welt

Eine Auflö­sung erfährt dieser Kon­flikt zwis­chen Glauben und Zweifeln in einzel­nen Momenten, in denen so etwas wie das “Geheim­nis der Welt” spür­bar wird. Beispiel­sweise beschreibt der Erzäh­ler einen Aus­flug, den der Pro­tag­o­nist mit ein­er Gruppe von Kindern, zu denen auch das eigene Kind gehört, untern­immt (70f.). Im Zuge dessen erfährt sich der Pro­tag­o­nist nicht nur als Auf­sichtsper­son, son­dern als selb­stver­ständlich­er Teil der Gruppe. Auch das eigene Kind ist ohne Prob­leme inte­gri­ert. Die Stra­pazen der Wan­derung sind geteilte Stra­pazen, welche die Gruppe zusam­men­schweißen. Im Erleb­nis dieser Ein­heit und Gemein­schaftlichkeit erfährt sich die Gruppe als ein einziger Organ­is­mus. Mit anderen Worten ver­weist dieses Erleb­nis auf eine tran­szen­dente Har­monie und appel­liert an die men­schliche Fähigkeit zum Glauben an das “Geheim­nis der Welt”. 

Peter Hand­ke: Kindergeschichte, Suhrkamp 1981, ISBN 3–518-03016–7.

Im Gespräch mit György Konrád

Györ­gy Kon­rád schreibt im Vor­wort seines neu erschiene­nen Werkes: „Ich mag Büch­er, bei denen man nach jedem Satz eine Pause ein­le­gen muss.“ Unter dem Titel „Gäste­buch. Nachsin­nen über die Frei­heit“ ist es im Suhrkamp-Ver­lag erschienen. Wer Kon­ráds Anspruch teilt, muss dieses Buch mögen.

An diesem Mittwoch stellte der Autor es im Max-Lieber­mann-Haus vor. Zur Ein­führung sin­nierte Pro­fes­sor Peter-Klaus Schus­ter, ein Vor­standsmit­glied der Stiftung Bran­den­burg­er Tor, darüber, welchem Genre der Text wohl zuzurech­nen sei, und greift damit die ersten Pas­sagen des Buch­es auf. Ins­ge­samt ist das Buch von einem reflek­tieren­den, selb­stkri­tis­chem und erfahrungsre­ichen Geist erfüllt.

Kindheit im Zweiten Weltkrieg

1933 in einem ungarischen Dorf geboren, entkam Kon­rád als 11-Jähriger knapp den Nazi-Scher­gen. Im Buch räumt er ein Schuld­be­wusst­sein ein, das er seit früh­ester Kind­heit emp­fun­den habe, „näm­lich dass hier etwas nicht in Ord­nung sei und ich mich nur deshalb, weil wir ein wohlhaben­deres Leben führten als die Anderen, vielle­icht schä­men müsse.“

Immer wieder ruft Kon­rád Men­schen aus sein­er Ver­gan­gen­heit her­bei. Gedanken über seine Rolle als Fam­i­lien­vater schließen an Gedanken an das Eheleben der Eltern an. Müt­ter ver­di­enen Dank, schreibt Kon­rád. Aber auch die Väter wür­den ihr Schick­sal tra­gen: „Aus jüdis­chem Arbeits­di­enst, aus Kriegs­ge­fan­gen­schaft heimgekehrte Väter, als Kriegsver­brech­er aufge­hängte Väter, im Gefäng­nis gebroch­ene, vor Angst verblödete Väter…“ Die Men­schen tra­gen in Kon­ráds Gedanken­welt nicht nur ihr eigenes Schick­sal, son­dern wer­den gle­ich­sam zum Schick­sal für andere. Die Eltern prä­gen das Leben ihrer Kinder. Die Schwest­er ist für Kon­ráds Mut­ter noch lebendig, auch als sie bere­its ver­stor­ben war. Kon­rád bringt dies auf die Sen­tenz: „Wie die Füße das Laufen, so braucht der Men­sch die Erin­nerung.“

Strom der Erinnerung

Für manche Autoren mag das Phänomen der Gle­ichzeit­igkeit ein Prob­lem darstellen, denn der Plot ver­langt eine Rei­hen­folge. Kon­rád ste­ht über solchen Beschränkun­gen. Das Bewusst­sein fol­gt kein­er Chronolo­gie, son­dern springt von einem Ereig­nis der Ver­gan­gen­heit in die Gegen­wart und hält bei alle­dem ein teils erhofftes teils gefürchtetes Zukun­fts­bild lebendig. Diese Transluzid­ität und Gle­ichzeit­igkeit des Bewusst­seins fängt Kon­rád in seinem Text ein.

Györ­gy Kon­rád über­lebt in Budapest die Nazi-Okku­pa­tion unter dem Schutz eines Schweiz­er Botschaft­sange­höri­gen. Auch seine Eltern, die im Mai 1944 deportiert wur­den, über­lebten. Anschließend studierte Kon­rád in Budapest Lit­er­atur­wis­senschaft und Sozi­olo­gie bis zum Ungar­nauf­s­tand 1956.

In Sätzen, die selb­st wie zusam­men­hanglose Trüm­mer nebeneinan­der ste­hen, zeich­net er ein erschüt­tern­des Bild von Budapest 1956: „Budapester Trüm­mer­land­schaft. Aus­bran­nte, eingestürzte, zer­bombte Häuser oder durch Kanonenkugeln durch­löcherte Häuser, blinde Fen­ster…“ Leichen wur­den not­dürftig in Grü­nan­la­gen ver­schar­rt, über­all dort, wo lose Erde aufge­häuft wer­den kon­nte.

Begegnungen

An ander­er Stelle beschreibt Kon­rád eine Begeg­nung mit dem jugoslaw­is­chen Schrift­steller Dani­lo Kiš, der offen­bar ganz egal, wo er sich befand, der Mit­telpunkt eines Grav­i­ta­tions­feldes war. In dessen Nähe rekel­ten sich hüb­sche Frauen, um Dani­los Aufmerk­samkeit zu erhaschen. Auf die Welt­prob­leme ange­sprochen gab Kiš zu ver­ste­hen, dass „die men­schlichen Prob­leme wed­er gelöst wer­den kön­nten noch müssten“.

Der Assozi­a­tion­step­pich Kon­ráds führt den Leser auch zur Wannseekon­ferenz. Dazu schreibt Kon­rád: „Endlö­sung? Hier ste­he ich als ein Beispiel, dass es doch nicht vol­lkom­men gelun­gen ist.“ Das Grauen des Holo­caust bekommt ein Gesicht, wenn man erfährt: Abge­se­hen von seinen Cousins, sein­er älteren Schwest­er und ihm selb­st, seien alle Schulka­m­er­aden zusam­men mit seinen Cousi­nen in Gas und Feuer aus­gelöscht wor­den. Weit­er­hin schreibt er: „Von den moral­isierend Fra­gen­den wende ich mich ab und sage: Wed­er Rache noch Verge­bung! Die Täter müssen mit dem eige­nen Schuld­be­wusst­sein leben. Wie lange? Lebenslänglich. Der Mörder bleibt bis zu seinem Tod ein Mörder.“

Es ist ein zirkulär­er Gedanken­gang zu erken­nen. Im Fort­laufen des Denkens tauchen immer wieder wie ein unhin­terge­hbares Skan­dalon die Schulka­m­er­aden auf, die flankiert wer­den von Gedanken und Assozi­a­tio­nen über die Shoa, die Kind­heit etc.

Anfänge als Schriftsteller

Von 1959 bis 1965 arbeit­et Kon­rád als Jugend­schutzin­spek­tor für die Vor­mund­schafts­be­hörde eines Budapester Stadt­bezirks. 1968 erschien sein erster Roman. Schon die Veröf­fentlichung des zweit­en Romans „Der Stadt­grün­der“ war schwierig. Györ­gy fasst das in dem Satz zusam­men: „Auch Büch­er haben ihr Schick­sal.“ 1973 stellte er seinen zweit­en Roman fer­tig. Zur sel­ben Zeit wurde auch der Text „Intel­li­genz auf dem Weg zur Klassen­macht“ vol­len­det, der von vorn­here­in im Aus­land veröf­fentlicht wer­den musste. Daraufhin wur­den die Woh­nun­gen Kon­rads und des Mitver­fassers Iván Szelényi durch­sucht und abge­hört. Ein beträchtlich­er Teil der Tage­buch-Aufze­ich­nun­gen Kon­ráds wur­den kon­fisziert. Die bei­den Autoren wur­den wegen staats­feindlich­er Het­ze ver­haftet und erhiel­ten eine staat­san­waltliche Ver­war­nung. Im „Gäste­buch“ schreibt Kon­rád: „Nach­dem ich aus der Unter­suchung­shaft ent­lassen wor­den war, ver­suchte ich mich mit Budapest wieder anzufre­un­den. Ich stand an den Roll­trep­pen der Met­ro­sta­tio­nen und schaute den aus der Tiefe Aufteigen­den in die Augen: Wer von Ihnen würde mich nicht ans Mess­er liefern.“

Gewohnheiten, die bleiben

Das Manuskript für den zweit­en Roman war in einem Fach unter der Tis­ch­plat­te ver­steckt, die man hochk­lap­pen kon­nte. Kon­rád erzählt, dass, wenn er zum ersten Mal einen Raum betritt, sein Blick nach Ver­steck­en für Texte sucht. Erst 1977 erschien Kon­rads zweit­er Roman auf Ungarisch, wobei er zuvor auf Deutsch (1975) veröf­fentlicht wor­den war. Nach der Wende erschien der Roman auf Ungarisch in nicht zen­siert­er Fas­sung. Weil er zwis­chen 1978 und 1988 nicht pub­lizieren durfte, reiste Kon­rád durch Wes­teu­ropa, Ameri­ka und Aus­tralien. Das Pub­lika­tionsver­bot wurde erst 1989 aufge­hoben.

Eine Empfehlung wert

Im Gespräch mit Terézia Mora beteuert er, alle seine Büch­er gle­ich hoch zu schätzen. Das „Gäste­buch“ erfüllt aber zweifel­los alle Kri­te­rien für ein Lieblings­buch.

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