Wie oft stirbt ein Men­sch im Laufe seines Lebens? Und was ist nötig, damit er sich selb­st über­lebt? Diese Fra­gen the­ma­tisiert die pol­nis­che Lit­er­aturnobel­preisträgerin Olga Tokar­czuk in ihrem Roman “Anna In”.

Die Stadt, in der die Geschichte spielt, ist auf Ruinen erbaut, darunter liegen die Katakomben. Das sind zwei Wel­ten: Die Stadt ist die Welt der Leben­den und die Katakomben die Welt der Toten und der Dämo­nen. Um die Katakomben zu betreten, muss man ein ehernes Tor passieren. Ein­lass wird nur den­jeni­gen gewährt, die zum Tode bes­timmt sind. Doch stärk­er als durch die räum­liche Tren­nung, die durch das Tor versinnbildlicht wird, sind die bei­den Wel­ten durch ein unum­stößlich­es Gesetz voneinan­der getren­nt: Wer die Katakomben betritt, kehrt nicht mehr in die Stadt zurück. 

Eine Reise an die Grenzen des Seins

Zu Beginn des Romans ler­nen wir die Titel­heldin Anna In ken­nen, sie ist eine Göt­tin der Liebe und des Krieges und herrscht über die Stadt. Doch erzählt wird die Geschichte nicht von ihr, son­dern von ein­er Vielzahl ander­er Stim­men. Eine von ihnen ist Nina Šubur, die sich als “Ich-Jede” vorstellt, ein gewöhn­lich­er Men­sch. Sie ist eng mit Anna In befre­un­det. Gemein­sam brechen sie zu ein­er Reise auf, doch Anna In weigert sich, das Reiseziel zu ver­rat­en. So fol­gen sie den weit verzweigten met­al­lenen Pfeil­ern, auf denen die Stadt errichtet ist, und die die unter­schiedlichen Ebe­nen der Stadt zusam­men­hal­ten. Aufzüge und Trep­pen­spi­ralen verbinden die Stadt­teile miteinan­der. Es gibt auch Rikschas, von stum­men Rikscha-Fahrern betrieben, die auf den Fahrsteigen dahin­ja­gen und rasch von Ebene zu Ebene sprin­gen kön­nen. Doch Anna In und ihre Fre­undin fol­gen dem labyrinthar­ti­gen Aufzugsys­tem. Mit ein­er Karte und einem Kom­pass aus­gerüstet, steigen sie in Aufzüge ein und wer­den ander­swo wieder aus­ge­spi­en, nur um bald in den näch­sten Aufzug umzusteigen. Über kurz oder lang stellt sich her­aus, wohin es Anna In zieht, näm­lich zu den Katakomben. Als sie am ehernen Tor zum Toten­re­ich ange­langt sind, berichtet Anna In, dass ihre Zwill­ingss­chwest­er, die Herrscherin des Toten­re­ichs, sie gerufen hat. Anna In hat die lei­d­volle Klage ihrer Schwest­er in ihrem Innern ver­nom­men: “Seit Tagen höre sie ihre Stimme, vielfach zurück­ge­wor­fen vom met­al­lenen Skelett der Stadt, wider­hal­lend in den Labyrinthen ihrer Ohren, der Ham­mer auf dem Amboss tönend wie eine Glocke.” (34) Es ist ein Rufen, dem sich Anna In nicht erwehren kann. Es ist der Ruf ihrer Schwest­er, der in ihr wider­hallt. Die Schwest­ern sind vere­int als Stimme und Res­o­nanzkör­p­er. Nina Šubur leuchtet diese beson­dere Verbindung ein: “Schwest­ern müssen schließlich eine Verbindung spüren, müssen sich ver­ste­hen […].” (35) Und so fol­gt Anna In dem Ruf ihrer Schwest­er und ver­schafft sich gebi­eter­isch Zugang zu den Katakomben.

Zwischen Kühnheit und Leichtsinn

Die Kühn­heit, mit der Anna In Ein­lass zum Toten­re­ich fordert, verblüfft nicht nur den Tor­wächter. “Weißt du auch, was du da tust?”, fragt dieser, nach­dem er sie ein­ge­lassen hat, und wird für einen kurzen Moment von dem Drang über­man­nt, “dieses leichtsin­nige junge Ding zu pack­en und wieder vor die Tür zu befördern” (41). Anna In hat das Toten­re­ich betreten, ohne zum Tode bes­timmt zu sein. Über die Kon­se­quen­zen ihres Han­delns scheint sie sich keine Gedanken zu machen. Der Tor­wächter fragt sich stumm: “Weiß sie, welche Strafe sie dafür erwartet? Es gibt keinen Weg zurück, sie ist so gut wie tot, das dumme Ding.” (47) Nimmt Anna In den Tod wil­lentlich in Kauf, um ihrer Schwest­er zu helfen? Diese Frage wird nicht ein­deutig beant­wortet. Es liegt aber nahe, dass sie sich eine solche Frage gar nicht gestellt hat. Es war das Näch­stliegende, der Schwest­er Bei­s­tand zu leis­ten; eine Verpflich­tung, die sie übern­immt, ohne darüber nachzu­denken. Dies wird ihr jedoch zum Ver­häng­nis.

Die Ein-Person-Rettungsaktion

Als Anna In nach drei Tagen nicht aus den Katakomben zurück­gekehrt ist, startet ihre Fre­undin Nina Šubur, die vor dem ehernen Tor gewartet hat, eine Ein-Per­son-Ret­tungsak­tion. Ihre Verzwei­flung wächst mit jedem Anlauf­punkt, den sie ans­teuert, und mit jedem Bittge­such, das abgelehnt wird. Sie wird bei Anna Ins Lieb­habern, Friseuren und Köchen vorstel­lig, ohne Hil­fe zu erhal­ten. Selb­st Anna Ins drei Göt­ter­väter weisen sie ab. Ein­er der Väter urteilt hart: “Sie aber, Anna In, ist nicht in der Lage sich anzu­passen. Sie ist asozial, agöt­tlich. Eine Diebin und Trinkerin. […] Eine Krawall­macherin.” (69) Am Ende beruft sich der Vater auf das Gesetz, das die Leben­den und die Toten voneinan­der schei­det: Nie­mand kann von den Katakomben in die Stadt zurück­kehren. “Ich kann sie nicht über das Gesetz stellen.” (69) Dieses Gesetz gle­icht der Schöp­fung­sor­d­nung: Was einen Anfang hat, muss auch ein Ende haben; was lebt, muss ein­mal ster­ben. Die Rück­kehr der Toten zu den Leben­den ist in der Schöp­fung­sor­d­nung nicht vorge­se­hen. Man kann dem Vater zugeste­hen, dass die Geset­zmäßigkeit­en der Schöp­fung nicht zur Dis­po­si­tion ste­hen.

Hier stellt sich die Frage, was die Fam­i­lie von Anna In zusam­men­schweißt. Ist es das Gesetz? Für Anna In selb­st spielte das Gesetz keine Rolle, als sie zu ihrer Schwest­er ins Toten­re­ich eilte. Das mag als unbeson­nen gel­ten: “Alles, was sie tut”, sagt ein ander­er der Göt­ter­väter, “tut sie unbeson­nen.” (61) Aber es ist auch ein Hin­weis darauf, dass es nicht das Gesetz ist, das die Schwest­ern miteinan­der verbindet. Vielmehr spürt Anna In eine intu­itive, unre­flek­tierte Verpflich­tung, der Schwest­er zu helfen. Eine Verpflich­tung, die das Gesetz mis­sachtet.

Eine neue Ordnung

Am Ende des Romans wird nicht das Gesetz das let­zte Wort haben. Stattdessen wird ein anderes Wort wichtig wer­den: Mitleid. Aus Mitleid wer­den manche der Pro­tag­o­nis­ten den Tod auf sich nehmen und aus Mitleid wird ihnen ein neues Leben geschenkt wer­den. In Tokar­czuks Roman stirbt ein Men­sch im Laufe seines Lebens mitunter viele Male. Was es möglich macht, dass er sich selb­st über­lebt, ist die Sol­i­dar­ität mit Wegge­fährten, die in ihrem Han­deln nicht auf das Gesetz beschränkt bleiben.

Olga Tokar­czuk: Anna In. Eine Reise zu den Katakomben der Welt, Kam­pa Pock­et 2024, ISBN 978 3 311 15055 8.