Magazin für Kultur

Kategorie: Rezension Sachbuch (Seite 4 von 4)

100 verlassene Orte in Deutschland und Europa

In drit­ter, aktu­al­isiert­er Auflage ist jet­zt eine der besten Überblicks­darstel­lung zu „Lost Places“ in Europa erschienen. Die ein­drucksvollen Fotografien von Thomas Kem­nitz, Robert Con­rad und Michael Täger doku­men­tieren das Schick­sal von Orten und Gebäu­den, die aus unter­schiedlichen Grün­den ver­lassen und dem Ver­fall preis­gegeben wur­den – weil sich poli­tis­che Kon­stel­la­tio­nen verän­dert haben, bes­timmte Indus­triezweige aufgegeben wur­den, Orte ihre Bedeu­tung ver­loren haben. Sie erzählen vom Auf­bruch und Unternehmergeist des aus­ge­hen­den 19. Jahrhun­derts, vom Glauben an Tech­nolo­gie und Fortschritt, von den bei­den Weltkriegen, der Teilung Deutsch­lands und den Verän­derun­gen durch den Fall des Eis­er­nen Vorhangs.
Die 100 Orte wer­den nicht chro­nol­o­gisch, son­dern nach ihrer ursprünglichen Nutzung, auf fünf Kapi­tel verteilt (pro­duzieren, leben, bilden, trans­portieren, schützen) vorgestellt – für den Betra­chter ein Gewinn, kann er doch auch Par­al­le­len zwis­chen ver­wandten Objek­ten aus­machen oder Entwick­lun­gen inner­halb ein­er Bauauf­gabe nachvol­lziehen. Am Ende der Kapi­tel wer­den in kurzen, infor­ma­tiv­en Tex­ten die wichtig­sten Fra­gen zu den Objek­ten beant­wortet: Wann und von wem wur­den sie gebaut? Für welche Nutzung? Wieso wur­den sie ver­lassen? Wie ist der Zus­tand heute? Diese Aufteilung hat­te wohl auch grafis­che Gründe, aber die rel­a­tiv knap­pen Texte hät­ten auch auf den jew­eili­gen Foto­seit­en Platz gehabt und dadurch dem Leser das ständi­ge Hin- und Herblät­tern erspart. Den­noch kann dieser Bild-Text-Band uneingeschränkt emp­fohlen wer­den.

KEMNITZ/CONRAD/TÄGER: Still­gelegt — 100 ver­lassene Orte in Deutsch­land und Europa, 224 Seit­en, zahlre­iche groß­for­matige Farb­fo­tos, gebun­den, € 29,95, Mair­Du­mont Ver­lag, Ost­fildern 2023, ISBN 9783616032269

“1923 – Ein deutsches Trauma”

Ein englis­ch­er His­torik­er leis­tet mit diesem Buch etwas was deutsche Autoren bis­lang nicht gelang: sehr anschaulich mit vie­len bish­er wenig beachteten Details angere­ichert ein für Deutsch­land sehr prä­gen­des Jahr zu doku­men­tieren und dabei die Lehren aus dieser für die Demokratie so bedrohlichen Zeit zu ziehen.

Jones verbindet die Mikroebene, das Lei­den der Men­schen, mit der Makroebene, dem Wirken von Regierun­gen. Er benen­nt die Ereignisse im Vor­jahr 1922 (vor allem den Mord an Außen­min­is­ter Rathenau durch Recht­sex­trem­is­ten) und führt uns mit­ten hinein ins Krisen­jahr 1923: in jene Monate, als franzö­sis­che und bel­gis­che Trup­pen das Ruhrge­bi­et beset­zten, dort eine Gewaltherrschaft ausübten und durch die Reak­tion der deutschen Regierung darauf eine galop­pierende Infla­tion aus­lösten. Er leis­tet eine dif­feren­zierte, rel­a­tivierende Darstel­lung des Putschver­suchs Hitlers in München im Novem­ber 1923, stellt die Gefährdun­gen der Demokratie durch Regierungs­beteili­gun­gen der DKP in Sach­sen und Thürin­gen und das Wirken schon recht­sex­trem han­del­nden Regierun­gen in Bay­ern dar, berichtet aber auch von den zahlre­ichen anti­semi­tis­chen Über­grif­f­en, deren Aus­maß wenig bekan­nt ist („Zeitgenossen schätzten, dass sich bis zu 10000 Men­schen an den Auss­chre­itun­gen beteiligt hat­ten“ S. 300). Am Ende des Jahres über­wand das Land die Dauerkrise (Kan­zler Stre­se­mann, auch die verän­derte Hal­tung Großbri­tan­niens waren wesentlich) und erre­ichte sta­bilere Ver­hält­nisse, die Demokrat­en standen schließlich als Sieger da.

Jones resümiert mit Aus­blick auf 2023: „Während des Jubiläums des Weimar­er Krisen­jahres und darüber hin­aus wäre es ein poli­tis­ch­er Fehler, wenn die entschei­dende Lehre der Geschichte nicht gehört würde: Het­zpoli­tik kann nur dann funk­tion­ieren, wenn Gewalt und diskri­m­inierende Reden unges­traft bleiben“ (S. 344)

Jones, Mark: 1923 – Ein deutsches Trau­ma, Hard­cov­er mit Schutzum­schlag, 384 Seit­en, ISBN: 9783549100301 Propy­läen Ver­lag, Berlin 2022, 26 €

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