Magazin für Kultur

Autor: Sophia Höff (Seite 2 von 2)

Mitternächtliche Begegnung mit dem Golem

Vorhin bekam ich eine SMS: „Tre­f­fen heute um Mit­ter­nacht an der syn­a­goga staro“. Das kam mir komisch vor: “staro” passt doch vom Genus her gar nicht mit “syn­a­goga” zusam­men. Wo soll über­haupt die „Alte Syn­a­goge“ sein?

Auch der Absender war mir unbekan­nt. Die Han­dynum­mer war unter­drückt und es hat­te auch nie­mand einen Gruß hin­ter­lassen. Trotz­dem bildete ich mir ein, zu wis­sen, wer dahin­ter steckt. Das ganze roch mir arg nach Hon­sa, der oft auf solche Ideen kam.

Ich zer­brach mir nicht weit­er den Kopf. Das ehe­ma­lige Juden­vier­tel ist nicht groß, seit­dem es vor 100 Jahren assaniert wurde. Auf dem Weg in die Stadt — mein Hotel liegt ziem­lich weit draußen — las ich aus gegeben­em Anlass im „Golem“ von Gus­tav Meyrink. Um 23 Uhr habe ich im Restau­rant „Sedm konšelů“ in der Žate­cká 10 zu Abend gegessen. Es hat sich zu ein­er Art Tra­di­tion entwick­elt, dass ich immer, wenn ich in Prag bin, dor­thin zum Ente­nessen gehe. Zwar war die gebratene Ente — wie immer, wenn man nicht zur Lunchzeit kam — schon aus, aber es gab genug anderes auf der Speisekarte. Mir ist alles mit Knedlicky recht. Von der Met­ro­sta­tion Staroměst­ská aus ist das Restau­rant gut zu erre­ichen.

Im Restau­rant hat­te ich das ungewisse Gefühl, von jeman­den beobachtet zu wer­den. Ich beachtete es nicht weit­er, doch während ich anschließend die Zate­cká ent­lang gehe, ver­stärkt sich dieser Ein­druck. Gemesse­nen Schrittes laufe ich einige Meter und drehe mich dann ruckar­tig um: Die Straße ist völ­lig leer. Diese Ver­lassen­heit schlägt mir wie etwas Unglück­seliges auf den Magen. Die Dunkel­heit der Nacht liegt auf der Umge­bung, als wolle sie etwas ver­ber­gen. Das mat­te Licht der Straßen­later­nen kommt dage­gen nicht an. Beina­he glaube ich, dort ein Gesicht aus­machen zu kön­nen. Ich stiere in die Dunkel­heit, um etwas zu erken­nen. Da sehe ich, wie sich etwas bewegt. Ein dun­kler Schat­ten, der riesen­haft auf mich zukommt. Mein Atem stockt. Abrupt reiße ich meinen Blick von der Stelle los und set­ze meinen Weg zügig fort. Wohin gehe ich eigentlich? Jet­zt taucht vor mir eine Syn­a­goge auf.

Pinkassy­n­a­goge © Sophia Höff

In diesem schumm­rig gel­ben Licht kann ich sie kaum erken­nen. In den Fen­stern spiegeln sich die Straßen­later­nen wie grim­mige Augen. Kön­nte das die „Alte Syn­o­goge“ sein? Ich ziehe mein Handy aus der Hand­tasche und google hek­tisch nach den Syn­a­gogen in der Josef­sstadt. Es han­delt sich um die Pinkassy­n­a­goge. Rasch über­fliege ich die Beschrei­bung: Die Pinkassy­n­a­goge wurde 1479 von Rab­bi Pinkas als pri­vate Syn­a­goge gegrün­det und im 16. Jahrhun­dert durch Ele­mente im Renais­sances­til erweit­ert…

Diese Syn­a­goge scheint mir nicht alt genug zu sein, als dass man sie „Alte Syn­a­goge“ beze­ich­nen würde. Im Rück­en spüre ich, wie mich etwas behar­rlich belauert. Vom Ein­gang der Pinkassy­n­a­goge aus gehe ich die Široká ger­adeaus weit­er. Links biege ich in die Meiselo­va ein.

Maisel­sy­n­a­goge  © Sophia Höff

Bald fällt mir ein Gebäude auf, das hin­ter Baugerüsten ver­steckt imposant in die Höhe ragt. Den David­stern trägt es selb­st­be­wusst vor sich her. Bei Google lese ich, dass es die Maisel­sy­n­a­goge ist. Sie wurde im 16. Jahrhun­dert durch den wohlhaben­den Banki­er und Bürg­er­meis­ter Mordechai Maisel erbaut.

Auch hier kann ich Hon­sa nir­gends ent­deck­en. Langsam beginne ich daran zu zweifeln, ob er die SMS tat­säch­lich geschrieben hat. Um mich herum gibt es nur Leere und Fin­ster­n­is. An der Straße­necke höre ich etwas über das Pflaster stolpern. Ich zucke zusam­men. Mein Blick erhascht ger­ade noch, wie eine dun­kle Sil­hou­ette hin­ter ein­er Haus­fas­sade ver­schwindet. Anges­pan­nt laufe ich auf die Stelle zu, wo die Gestalt ges­tanden hat, denn irgen­det­was liegt dort auf dem Boden. Instink­tiv greife ich danach: Es ist eine Hand, trock­en, staubig. Sie ist in ein­er grotesken Greifhal­tung erstar­rt. Sie beste­ht aus Lehm. Ver­dutzt blicke ich auf diesen Fremd­kör­p­er, der schw­er in mein­er Hand liegt. Ich wage nicht, ihn auf den Boden fall­en zu lassen, und lege ihn wie ein Klein­od sorgsam dor­thin zurück, wo ich ihn gefun­den habe.

Ohne darauf zu acht­en, wohin ich gehe, finde ich mich unverse­hens auf der Široká wieder und laufe ger­adeaus auf die Vězeňská zu. Ich füh­le mich, als wäre die Gren­ze zwis­chen Traum und Wirk­lichkeit aufgelöst. Einge­hüllt in mattes, schlaftrunk­enes Licht ist alles selt­sam ent­fremdet. Mir ist, als ob ich träume.

Kaf­ka-Denkmal  © Sophia Höff

Da taucht plöt­zlich ein Mann vor mir auf! Wo sich der Kopf befind­en sollte, sitzt neck­isch ein Män­neken. Überdeut­lich prägt sich mir ein, dass ihm eine Hand fehlt. Ich muss an die Lehm­hand denken, die auf dem Boden lag…

“Der Golem!”, schießt es mir durch den Kopf. Er ist das unfer­tige Geschöpf, das von Men­schen­hand aus Lehm geschaf­fen wurde. Es ist wed­er lebendig noch tot. Nur durch geheimnisvolle Formeln kann es belebt wer­den. Ich zwinge mich dazu, ratio­nal zu sein, und sage immer wieder vor mich hin: “Das ist bloß eine Stat­ue!”

Die Spanis­che Syn­a­goge, die neben der Stat­ue ste­ht, beachte ich gar nicht. Sie wurde im 19. Jahrhun­dert an der Stelle erbaut, wo im 11. Jahrhun­dert eine byzan­ti­nis­che Syn­a­goge stand.

Schlafwan­del­nd streife ich weit­er durch die Gassen. Gri­massen glotzen von den Haus­fas­saden herab.

Josef­s­tadt  © Sophia Höff

Von der Vězeňská irre ich zurück auf die Široká und biege in die Meiselo­va nach links ein. Dort tre­ffe ich auf eine andere Syn­a­goge. Google ver­rät mir, dass es die älteste Syn­a­goge Europas ist: Die Alt­neusy­n­a­goge wurde 1275 erbaut. Den Namen trägt sie, weil es zur Zeit ihrer Erbau­ung bere­its eine ältere Syn­a­goge gab und im 16. Jahrhun­dert eine eine neue Syn­a­goge gebaut wurde. Sowohl die Alte Syn­a­goge als auch die Neue Syn­a­goge wur­den im Zuge der Assanierung zer­stört; nur die Alt­neusy­n­a­goge blieb erhal­ten.

Bestürzt lese ich den Satz noch ein­mal: Es gibt keine Alte Syn­a­goge. Stand denn nicht in der SMS, dass wir uns an der Alten Syn­a­goge tre­f­fen? Schla­gar­tig wird mir die tschechis­che Beze­ich­nung der Alt­neusy­n­a­goge bewusst: Staronová syn­a­goga. In der SMS stand, dass wir uns an der syn­a­goga staro… tre­f­fen. Gemeint ist staronová. Hier soll ich ihn tre­f­fen! Aber warum brach die SMS an dieser Stelle ab?

Ich drehe mich suchend um. Da bemerke ich, dass ein Mann direkt hin­ter mir ste­ht. Ich bringe nur einen stum­men Schrei her­vor. Ich kann in der Dunkel­heit das Gesicht nicht erken­nen. Dessen Klei­dung ist alt­modisch und abgewet­zt. Unge­lenk bewegt sich sein Arm nach oben. Wie geban­nt starre ich auf seine Hand. In der Dunkel­heit wirkt sie fahl und grob­schlächtig. Unver­mit­telt greift sie fest an meinen Hals. Entset­zt entwinde ich mich seinem Griff.

Ich renne kopf­los in eine Gasse links von der Alt­neusy­n­a­goge hinein. Es kommt mir vor, als würde ich einen Tun­nel ent­lang laufen, der nur in eine Rich­tung führt.

Josef­s­tadt © Sophia Höff

Wie das Licht die Mot­ten anzieht, stürze ich auf das Haus am Ende der Gasse zu. Jeden Moment fürchte ich, den harten, unbarmherzi­gen Griff an meinem Nack­en zu spüren.

Klausen-Syn­a­goge © Sophia Höff

Ich kann keinen Gedanken fassen. Stattdessen füh­le ich meinen Herz­schlag dröh­nend gegen meine Schläfen pochen. Dieses Pochen kommt mir vor, wie die pras­sel­nden Körn­er ein­er ver­siegen­den San­duhr.

Ich atme hastig und doch bekomme ich kaum Luft. Am Ende der Gasse angekom­men, erkenne ich, dass dort ein Fried­hof ist.

Am Ende des Tun­nels gibt es kein Licht. Der Tor­ein­gang ist ver­schlossen und dahin­ter ist nichts als Dunkel­heit. Mir wird Schwarz vor Augen und ich sinke vor dem Tor­ein­gang des Fried­hofes zusam­men.

Jüdis­ch­er Fried­hof © Sophia Höff

Das Pochen wird lauter. Ich spüre die weichen Pol­ster des Sofas unter mir. Auf dem Couchtisch liegt “Der Golem”. Draußen höre ich jeman­den meinen Namen rufen und gegen das Tür­blatt pochen. Das ist Hon­sa, denke ich. Langsam däm­mert mir, das ich mit ihm verabre­det bin und auf ihn gewartet habe. Ich muss dabei eingeschlafen sein. Es ist erstaunlich, dass sich mir die Josef­sstadt so detail­liert ins Bewusst­sein einge­bran­nt hat.

Zu Besuch bei Prager deutschen Schriftstellern

Die mod­erne Lit­er­atur­wis­senschaft hat für das Werk bes­timmter Autoren die Beze­ich­nung „Prager deutsche Lit­er­atur“ einge­führt. Diesen Autoren ist es gemein­sam, dass sie Ende des 19. Jahrhun­derts in Prag geboren wur­den und größ­ten­teils jüdisch waren.

Sie führten ein Leben in drei Wel­ten: in der tschechis­chen, der deutschen und in der jüdis­chen Kul­tur. Das Zusam­men­tr­e­f­fen dieser Kul­turen ver­lief nicht unbe­d­ingt rei­bungs­los: In Prag lebten mehrheitlich Slawen. Zunehmend unzufrieden mit ihrer unter­ge­ord­neten Posi­tion in der k. u. k. Monar­chie fol­gten viele Tschechen nation­al­is­tis­chen Bewe­gun­gen, die 1848 im Sklawenkongress und im Prager Pfin­gsauf­s­tand mün­de­ten. Für das Zusam­men­leben zwis­chen der slaw­is­chen und der deutschsprachi­gen Bevölkerung ergaben sich daraus Span­nun­gen. Nach­dem die nation­al­is­tis­chen Bestre­bun­gen seit­ens des hab­s­bur­gisch-lothringis­chen Herrscher­haus­es lange Zeit unter­drückt wor­den waren, wurde Böh­men 1871 bes­timmte Rechte zuge­s­tanden. Das führte zu einem ökonomis­chen Auf­schwung, von dem sicher­lich auch jüdis­che Kau­fleute prof­i­tierten. Ver­bun­den mit einem aufkeimenden Anti­semitismus lieferte diese Entwick­lung zusät­zlich­es Kon­flik­t­po­ten­tial. Mit der Inva­sion der Nation­al­sozial­is­ten 1939 nahm die Prager deutsche Lit­er­atur ein abruptes Ende.

Auf der anderen Seite kann die Zeit um die Jahrhun­der­twende als ein Höhep­unkt in der Geschichte ange­se­hen wer­den: Prag flo­ri­erte sowohl ökonomisch als auch kul­turell und stieg zur Welt­metro­pole auf. Das ver­dank­te sie der bürg­er­lichen intellek­tuellen Elite, die sich nicht zulet­zt aus den Prager deutschen Autoren rekru­tierte. Diese kon­nten durch ihre mehrsprachige Erziehung die mul­ti­kul­turelle Atmo­sphäre Prags in beson­der­er Weise erleben. Durch ihre Kreativ­ität verdichteten sie ihre Erfahrun­gen zu großer Lit­er­atur. So haben sie let­ztlich alle drei Kul­turen bere­ichert.

Lassen Sie uns gemein­sam die Geburtshäuser einiger dieser Autoren aufzusuchen, auch wenn die Chance, die Autoren dort anzutr­e­f­fen eher ger­ing ist.

Treffpunkt: Kavárna Arco (12:00 Uhr)

Begin­nen Sie den Stadtrundgang bei der Kavár­na Arco in der Dlážděná 1004/6 Ecke Hybern­ská 1004/16, 110 00 Pra­ha 1.

Zur Hybern­ská gelan­gen Sie, indem Sie am Masaryko­vo nádraží aussteigen und die Havlíčko­va nach Süden gehen, d. h. vom Haup­taus­gang des Bahn­hofs aus nach links. Lei­der ist das Café heute geschlossen.

Kavár­na Arco © Sophia Höff

In diesem Café traf sich regelmäßig der soge­nan­nte „Prager Kreis“, um über Lit­er­atur und Philoso­phie zu debat­tieren. Dazu gehörten u. a. Max Brod und Franz Kaf­ka, die wir später besuchen wer­den. Auch Franz Wer­fel zählt im weit­eren Sinne zum „Prager Kreis“.

Franz Werfel (12:05 Uhr)

*10. Sep­tem­ber 1890 in Prag, Monar­chie Öster­re­ich-Ungarn † 26. August 1945 in Bev­er­ly Hills, Kali­fornien, Vere­inigte Staat­en

Geburtshaus von Franz Wer­fel © Sophia Höff

Unser erster Haus­be­such gilt Franz Wer­fel. Er wurde in der Havlíčko­va 1043/11; 110 00 Pra­ha-Pra­ha 1 geboren. Vom Café Arco aus gehen Sie dieselbe Straße einige Meter zurück. In der Haus­num­mer 1043/11 wurde Franz Wer­fel geboren.

Plakette für Wer­fel © Sophia Höff

Wer­fel kam als Sohn eines wohlhaben­den Hand­schuh­fab­rikan­ten zur Welt. Die Fam­i­lie war jüdisch, doch sein christlich­es Kin­der­mäd­chen und der Besuch der eben­falls christlichen Pri­vatschule der Piaris­ten prägten ihn.
Er war befre­un­det mit Max Brod, der dessen Tal­ent erkan­nte und förderte. 1929 kon­vertierte Wer­fel zum Katholizis­mus, um Alma Mahler heirat­en zu kön­nen. Das stra­pazierte die Fre­und­schaft zu Brod, der selb­st dem Zion­is­mus nah­e­s­tand. Zu Wer­fels Hauptwerken zählt „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ (1933).

Max Brod (12:20 Uhr)

* 27. Mai 1884 in Prag, Monar­chie Öster­re­ich-Ungarn † 20. Dezem­ber 1968 in Tel Aviv, Palästi­na

Max Brod kam nicht weit von Wer­fels Geburtshaus ent­fer­nt zur Welt, näm­lich in der Haš­tal­ská 1031/25, 110 00 Pra­ha-Pra­ha 1.

Geburtshaus von Max Brod © Sophia Höff

Gehen Sie die Havlíčko­va ger­adeaus weit­er und biegen Sie in die näch­ste Quer­straße, die Na Poříčí nach links ein. Diese führt Sie auf den Náměstí Repub­liky. Vom Platz aus biegen Sie nach rechts in die Rev­oluční ein. Laufen Sie ger­adeaus, bis Sie links zur Dlouhá kom­men. Von dort biegen Sie rechts in die Hradeb­ní ein und dann links in die K Haš­talu. Daraufhin laufen Sie direkt auf Brods Geburtshaus in der Haš­tal­ská zu.

Max Brod wurde in eine großbürg­er­liche jüdis­che Fam­i­lie hineinge­boren. Früh kam er mit Lit­er­atur und klas­sis­ch­er Musik in Berührung. Er begann ein Juras­tudi­um an der deutschsprachi­gen Karl-Fer­di­nands-Uni­ver­sität und schloss während­dessen Fre­und­schaft mit seinem Kom­mili­to­nen Franz Kaf­ka. Bere­its 1906 veröf­fentlichte er eine Nov­el­len­samm­lung und baute in den fol­gen­den Jahren sein Renom­mée als Schrift­steller aus.

Er besaß die Urteil­skraft, das lit­er­arische Tal­ent ander­er Autoren zu erken­nen. Sein Erfolg ermöglichte es ihm, deren Kar­riere zu fördern. So ist er auch als Ent­deck­er und Men­tor ver­schieden­er Autoren bedeut­sam. Darüber hin­aus kom­ponierte er selb­st Musik. 1939 emi­gri­erte er nach Palästi­na.

Plakette für Max Brod © Sophia Höff

Franz Kafka (12:40 Uhr)

* 3. Juli 1883 in Prag, Monar­chie Öster­re­ich-Ungarn † 3. Juni 1924 in Klosterneuburg-Kier­ling, Öster­re­ich

Geburtshaus von Franz Kaf­ka © Sophia Höff

Franz Kaf­ka war eng mit Max Brod und Franz Wer­fel befre­un­det. Nach ihm wurde der Platz vor seinem Geburtshaus benan­nt: Náměstí Franze Kafky 24/3, 110 00 Pra­ha-Pra­ha 1. Von Brods Geburtshaus aus laufen Sie die Haš­tal­ská nach links. Anschließend fol­gen Sie der Kozí und der Dlouhá in der sel­ben Rich­tung bis zum Staroměst­ské náměstí. Gehen Sie auf dem Platz gle­ich nach rechts an der Pařížská und der Kirche „Svatého Mikuláše“ vor­bei. Hin­ter der Kirche befind­et sich der Náměstí Franze Kafky.

Plakette für Kaf­ka © Sophia Höff

Kaf­ka entstammt ein­er jüdis­chen Kauf­manns­fam­i­lie. Nach dem Besuch der Deutschen Knaben­schule und dem deutschsprachi­gen Staats­gym­na­si­um imma­trikulierte er sich nach mehreren Fach­wech­seln für Jura an der Karl-Fer­di­nands-Uni­ver­sität. Nach dem Abschluss arbeit­ete er für ver­schiedene Ver­sicherungs­ge­sellschaften.
Sein unverkennbar­er Schreib­stil und seine sur­realen Fan­tasieland­schaften macht­en ihn als Autor welt­berühmt. Die Mehrzahl sein­er Werke wurde jedoch posthum veröf­fentlicht, was teils an seinem selb­stkri­tis­chen Per­fek­tion­is­mus und teils an seinem frühen Tod lag.

Egon Erwin Kisch (12:50 Uhr)

* 29. April 1885 in Prag, Monar­chie Öster­re­ich-Ungarn † 31. März 1948 in Prag, Tschechisch-Slowakische Repub­lik

Egon Erwin Kisch wurde als Egon Kisch in eine jüdis­che Fam­i­lie hineinge­boren. Sein Vater war Tuch­mach­er. In der Melantri­cho­va 475/16 / Kožná 475/1, 110 00 Pra­ha-Pra­ha 1, wo er geboren wurde, befand sich im Erdgeschoss die Tuch­hand­lung des Vaters.

Geburtshaus von Egon Erwin Kisch © Sophia Höff

Gehen Sie zurück zum Staroměst­ské náměstí auf die ent­ge­genge­set­zte Seite des Alt­städter Rathaus­es. Dort biegen Sie in die Melantri­cho­va ein.

Plakette für Kisch © Sophia Höff

Zunächst besuchte Kisch eine Schule im Serviten­kloster zu St. Michael und wech­selte dann auf die Piaris­ten­schule, die auch Franz Wer­fel besucht hat. Als er sein erstes Gedicht veröf­fentlichte, wählte er das Pseu­do­nym Erwin, da es seine Schule ver­bot in der Presse zu pub­lizieren.
Später begann er wie Brod und Kaf­ka an der Karl-Fer­di­nand­suni­ver­sität zu studieren. Allerd­ings besuchte er Vor­lesun­gen zur Geschichte der deutschen Lit­er­atur und zur Geschichte der mit­te­lal­ter­lichen Philoso­phie. Nach Ableis­ten des Mil­itär­di­en­stes arbeit­ete er für das „Prager Tag­blatt“ und dann für die Prager Tageszeitung „Bohemia“. Er lernte Brod, Kaf­ka, und Rilke ken­nen. Sowohl als Jour­nal­ist als auch als bel­letris­tis­ch­er Autor hat er sich einen Namen gemacht.

Rainer Maria Rilke (13:05 Uhr)

* 4. Dezem­ber 1875 in Prag, Monar­chie Öster­re­ich-Ungarn † 29. Dezem­ber 1926 im Sana­to­ri­um Val­mont bei Mon­treux, Schweiz

Rain­er Maria Rilke wurde als René Karl Wil­helm Johann Josef Maria Rilke als Sohn eines Bah­nar­beit­ers und ein­er jüdis­chen Fab­rikan­ten­tochter geboren. Er wuchs in der Jindřišská 889/17, 110 00 Pra­ha 1‑Nové Měs­to auf.

Geburtshaus von Rain­er Maria Rilke © Sophia Höff

Gehen Sie auf der Melantri­cho­va weit­er in Rich­tung des Wen­zel­splatzes. Über­queren Sie Na můstku und laufen Sie auf dem Václavské náměstí bis zur Jindřišská, die sich auf der linken Seite befind­et. An seinem Geburtshaus befind­et sich keine Gedenk­tafel, da die heuti­gen Besitzer das ablehnen.

Stattdessen wurde eine Gedenk­tafel an der ehe­ma­li­gen Piaris­ten-Schule in der Na příkopě 16 ange­bracht.

Plakette für Rilke © Sophia Höff

Rilkes Mut­ter ver­suchte den Tod sein­er älteren Schwest­er zu kom­pen­sieren, indem sie ihn während sein­er ersten Leben­s­jahre wie ein Mäd­chen auf­zog. René bedeutet „der Wiederge­borene“. Anfangs besuchte er wie andere Vertreter der Prager deutschen Lit­er­atur die Piaris­ten-Schule. Sein Vater, der gerne eine mil­itärische Kar­riere ver­fol­gt hätte, schick­te den Sohn mit zehn Jahren an eine Mil­itär­re­alschule in Öster­re­ich. Sechs Jahre später musste Rilke die mil­itärische Aus­bil­dung gesund­heits­be­d­ingt aufgeben. Eben­so scheit­erte der Ver­such an ein­er Han­del­sakademie einen Abschluss zu erwer­ben, dies­mal wegen ein­er ver­bote­nen Liai­son. Daraufhin nahm Rilke in Prag Pri­vatun­ter­richt und legte sein Abitur ab. Anschließend studierte er in München Jura.
In seinen Gedicht­en erre­ichte er eine ein­ma­lige Aus­druck­skraft. Daneben ver­fasste er auch den Roman „Die Aufze­ich­nun­gen des Malte Lau­rids Brigge“ (1910).

Über die Verheißung der Freiheit und die Last der Verantwortung

Eine Vor­tragsrei­he der Kon­rad-Ade­nauer-Stiftung zum The­ma „20. Juli 1944 — Ver­mächt­nis und Zukun­ft­sauf­trag“ nahm Bun­de­spräsi­dent a.D. Joachim Gauck an diesem Mittwoch zum Anlass, an unsere ure­igen­ste Sein­sweise zu appel­lieren: Die Frei­heit.

Freiheit vs Ohnmacht

Unter dem Vorze­ichen, nicht den real existieren­den Sozial­is­mus der DDR mit dem Nation­al­sozial­is­mus gle­ichzuset­zen, erzählt Joachim Gauck von Episo­den aus seinem Leben, wie er sie in der Dik­tatur der Kom­mu­nis­ten erlebt hat.

Entschei­dun­gen, die man heutzu­tage selb­stver­ständlich trifft, beispiel­sweise auf welch­er weit­er­führen­den Schule man sein Kind anmelden soll, wurde in der DDR fremdbes­timmt. Nach Gauck stellt sich mit der Zeit ein Gefühl ein, dass man gelebt wird. So lerne man — auch in ein­er Dik­tatur, die nicht mordet und keine Konzen­tra­tionslager hat, son­dern nur in den ern­steren Fällen nach wirk­lich üblen Repres­salien greift — ganz schnell, sich an Ohn­macht zu gewöh­nen.

Doch dieses Gefühl der Ohn­macht hängt nach Gauck keineswegs mit der Staats­form zusam­men, son­dern mit einem Para­dox der men­schlichen Exis­tenz. Neben der Sehn­sucht nach Frei­heit spüre der Men­sch zugle­ich eine Furcht vor der Frei­heit. Denn als freie Men­schen sehen wir uns mit ein­er Fülle von Möglichkeit­en kon­fron­tiert und erken­nen zugle­ich, dass wir „die Bes­tim­mer“ unseres Lebens sind. Ohn­macht habe insofern auch etwas Ver­führerisches. Nicht jed­er Men­sch eigne sich dazu, seine Frei­heit selb­st­bes­timmt zu affir­mieren.

Wer sich sein­er Frei­heit bewusst wird, spüre zugle­ich die Last sein­er Ver­ant­wor­tung. Häu­fig suche man dann nach Möglichkeit­en, seine Ver­ant­wor­tung abzugeben, weil man sich nicht für befähigt genug halte. In der Dik­tatur wie in der Demokratie ist man laut Gauck in Ver­suchung, sich für nicht zuständig zu erk­lären. Wenn man dem nachgibt, sei das eine frei­willige Einkehr in ein Are­al von Ohn­macht. In dieser Sit­u­a­tion könne uns die Ver­gan­gen­heit eine Stütze sein. Denn die großen Namen des Wider­stands kön­nen uns in dem Gefühl bestärken, dass wir eine Wahl haben. In der Dik­tatur wie in der Demokratie haben wir die Wahl „das weniger Schlechte oder das etwas Bessere, das etwas Men­schlichere, das etwas Mutigere“ zu tun.

Die Gabe der Verantwortung

Gauck beze­ich­net es als „Gabe“, dass wir ver­ant­wor­tungs­be­wusst sind, dass wir den Mut haben kön­nen, uns selb­st als ver­ant­wor­tungs­fähige Wesen zu begreifen. Dieses Bewusst­sein von Frei­heit ist nach Gauck der Inbe­griff von Demokratie: „Wir erk­lären uns für zuständig.“ Um diese Rolle in der Demokratie zu erler­nen, brauchen wir Men­schen, die uns etwas von Werten erzählen und die uns diese Werte vor­leben.

Es geht also laut Gauck nicht darum, sich zu fra­gen, ob man zum Mär­tyr­er taugt, son­dern darum, welche Fähigkeit man hat, an der man wach­sen kann, und in welchem Maße einem das Vor­bild dieser Wider­stand­skämpfer hil­ft, die eige­nen Schwächen zu min­imieren.

CSI: Frankfurt

Über die Knochenar­beit eines Rechtsmedi­zin­ers sprach Prof. Dr. Mar­cel A. Ver­hoff, Direk­tor des Insti­tuts für Rechtsmedi­zin am Uni­ver­sität­sklinikum Frank­furt am Main, an diesem Mittwoch in der hes­sis­chen Lan­desvertre­tung.

Ein Schw­er­punkt des Insti­tutes liegt auf der foren­sis­chen Ento­molo­gie, also auf der wis­senschaftlichen Erforschung von Insek­ten zur Aufk­lärung von Ver­brechen. Das Insti­tut für Rechtsmedi­zin in Frank­furt ist europaweit eines der forschungsstärk­sten Ein­rich­tun­gen auf diesem Gebi­et. Ein anderes Spezial­ge­bi­et der Rechtsmedi­zin ist die foren­sis­che Oste­olo­gie, die dann zum Ein­satz kommt, wenn vom Men­schen nur noch Knochen übrig sind. Es geht also um echte Knochenar­beit — wie der Titel der Ver­anstal­tung schon nahelegt: „CSI oder Knochenar­beit? Foren­sis­che Oste­olo­gie in der mod­er­nen Rechtsmedi­zin“.

Die Rechtsmedizin als Wissenschaft

Ein Tather­gang wird mitunter vom Tatverdächti­gen, vom ver­meintlichen Opfer und von beteiligten Zeu­gen unter­schiedlich beschrieben. Wenn es darum geht, solche Szenar­ien zu beurteilen, wer­den von den Rechtsmedi­zin­ern Wahrschein­lichkeit­sangaben gefordert. Im Strafrecht wird die an Sicher­heit gren­zende Wahrschein­lichkeit voraus­ge­set­zt. Die Rechtsmedi­zin ist daher auf eine gut doku­men­tierte Beweis­lage angewiesen. Ihre Aus­sagen trifft sie mit Bedacht, denn nur in einem von tausend Fällen wird ihr ein Irrtum zuge­s­tanden.

Um dem eige­nen wis­senschaftlichen Anspruch zu genü­gen, ist die Rechtsmedi­zin mit der Schwierigkeit kon­fron­tiert, dass es nur geringe Fal­lzahlen gibt. Manch­mal grün­den Erken­nt­nisse auf Einzelfällen. Daher kommt es darauf an, die einzel­nen Fälle so gut wie möglich auszuar­beit­en bzw. nachzuar­beit­en: In Stu­di­en wer­den häu­fig Re-Eval­u­a­tio­nen durchge­führt, um ein bes­timmtes Phänomen zu vali­dieren. Die Pub­lika­tion von Fall­beispie­len gestal­tet sich für die Rechtsmedi­zin auf­grund des pub­li­ca­tion bias und nationaler rechtlich­er Eigen­heit­en schwierig.

Was uns ein Knochen zu sagen hat

In der Prax­is lässt schon ein einzel­ner Knochen Rückschlüsse auf das Geschlecht und die Kör­per­größe des Ver­stor­be­nen zu. Sta­tis­tisch gese­hen habe Män­ner län­gere Beine als Frauen, d. h. ein langer Glied­maßen­knochen deutet auf einen Mann hin. Es gibt darüber hin­aus ver­schiedene Formeln zur Rekon­struk­tion der Kör­per­größe zum Beispiel von Her­bert Bach aus dem Jahr 1965. Allerd­ings müssen dabei Schwankun­gen inner­halb ein­er Pop­u­la­tion berück­sichtigt wer­den. Heutzu­tage wer­den virtuelle Knochen aus post­mor­tal­en Com­put­er­to­mo­grafien als Ref­erenz herange­zo­gen. Das Alter eines Men­schen kann beispiel­sweise auf­grund der Schädel­naht rekon­stru­iert wer­den, denn diese Naht ver­schließt sich mit zunehmenden Alter. Ein Forschung­spro­jekt an der Uni­ver­sität Gießen hat­te das Ziel, diese Rekon­struk­tion­sleis­tung zu automa­tisieren.

Pro­fes­sor Ver­hoff ver­wies auch auf einige Anwen­dungs­beispiele aus der Prax­is. So kon­nte man inter­es­sante Ein­blicke in die hes­sis­che Krim­i­nalgeschichte gewin­nen und in den Beitrag, den die Rechtsmedi­zin zur Aufk­lärung leis­ten kon­nte.

Titel­bild: © Eck­hard Joite

Pariser Platz der Kulturen

Seit einem Jahr ist Matthias Schulz alleiniger Inten­dant der Staat­sop­er Berlin. Beim 58. Paris­er Platz der Kul­turen berichtete er im Gespräch mit der Mod­er­a­torin Petra Gute von Strate­gien, die das Tra­di­tion­shaus mit Leben füllen sollen.

Dabei ken­nt er keine Alters­beschränkung, vielmehr sind ger­ade junge Men­schen ange­sprochen. Um junge Surfer direkt zu erre­ichen, bedi­ent die Staat­sop­er sämtliche Social Media Kanäle. Dabei ist sie nicht ein­mal eigen­nützig, son­dern will ein­fach das über­bor­dende, unmit­tel­bare Erleb­nis „Oper“ mit seinem Pub­likum teilen.

Nachwuchspublikum

Das ist ein Ini­tial­mo­ment, meint Matthias Schulz, der einen Kon­takt zur Oper in jun­gen Jahren für unab­d­ing­bar hält. Kinder- und Jugen­dar­beit wird aber auch son­st an der Staat­sop­er großgeschrieben: Junge Musiker*innen dür­fen sich etwa im Kinderorch­ester bewähren, wobei ange­hende Kulturjournalist*innen Rezen­sio­nen ver­fassen.

Wie unter­schiedlich Opern­er­leb­nisse aus­fall­en, hängt zum Großteil an der Insze­nierung. Die Staat­sop­er präsen­tiert eine große Band­bre­ite an Insze­nierun­gen unter Umstän­den auch ein und des­sel­ben Werkes, wie am Beispiel der „Zauber­flöte“ von Yuval Sharon bzw. August Everd­ing derzeit zu sehen ist.

Nachwuchskünstler

Natür­lich möchte nicht nur das Nach­wuch­spub­likum für die Staat­sop­er gewon­nen wer­den, son­dern auch die Nach­wuch­skün­stler. Dafür hat die Staat­sop­er 2007 ein inter­na­tionales Opern­stu­dio ins Leben gerufen, der aktuell unter anderem Sarah Aris­ti­dou ange­hört, die an diesem Abend eine Kost­probe ihrer Kun­st gab. Ein anderes For­mat ist die Orch­ester­akademie, die als Teil der Staatskapelle Berlin jun­gen Instrumentalist*innen die Möglichkeit bietet während des Studi­ums schon Büh­nen­luft zu schnup­pern.

Wer sagt, dass Oper elitär und welt­fremd wäre? – nie­mand, den ich kenne. Und die anderen kön­nen sich gerne vom Gegen­teil überzeu­gen lassen. Der Spielplan dieser Sai­son spricht im Übri­gen für sich selb­st.

Im Gespräch mit György Konrád

Györ­gy Kon­rád schreibt im Vor­wort seines neu erschiene­nen Werkes: „Ich mag Büch­er, bei denen man nach jedem Satz eine Pause ein­le­gen muss.“ Unter dem Titel „Gäste­buch. Nachsin­nen über die Frei­heit“ ist es im Suhrkamp-Ver­lag erschienen. Wer Kon­ráds Anspruch teilt, muss dieses Buch mögen.

An diesem Mittwoch stellte der Autor es im Max-Lieber­mann-Haus vor. Zur Ein­führung sin­nierte Pro­fes­sor Peter-Klaus Schus­ter, ein Vor­standsmit­glied der Stiftung Bran­den­burg­er Tor, darüber, welchem Genre der Text wohl zuzurech­nen sei, und greift damit die ersten Pas­sagen des Buch­es auf. Ins­ge­samt ist das Buch von einem reflek­tieren­den, selb­stkri­tis­chem und erfahrungsre­ichen Geist erfüllt.

Kindheit im Zweiten Weltkrieg

1933 in einem ungarischen Dorf geboren, entkam Kon­rád als 11-Jähriger knapp den Nazi-Scher­gen. Im Buch räumt er ein Schuld­be­wusst­sein ein, das er seit früh­ester Kind­heit emp­fun­den habe, „näm­lich dass hier etwas nicht in Ord­nung sei und ich mich nur deshalb, weil wir ein wohlhaben­deres Leben führten als die Anderen, vielle­icht schä­men müsse.“

Immer wieder ruft Kon­rád Men­schen aus sein­er Ver­gan­gen­heit her­bei. Gedanken über seine Rolle als Fam­i­lien­vater schließen an Gedanken an das Eheleben der Eltern an. Müt­ter ver­di­enen Dank, schreibt Kon­rád. Aber auch die Väter wür­den ihr Schick­sal tra­gen: „Aus jüdis­chem Arbeits­di­enst, aus Kriegs­ge­fan­gen­schaft heimgekehrte Väter, als Kriegsver­brech­er aufge­hängte Väter, im Gefäng­nis gebroch­ene, vor Angst verblödete Väter…“ Die Men­schen tra­gen in Kon­ráds Gedanken­welt nicht nur ihr eigenes Schick­sal, son­dern wer­den gle­ich­sam zum Schick­sal für andere. Die Eltern prä­gen das Leben ihrer Kinder. Die Schwest­er ist für Kon­ráds Mut­ter noch lebendig, auch als sie bere­its ver­stor­ben war. Kon­rád bringt dies auf die Sen­tenz: „Wie die Füße das Laufen, so braucht der Men­sch die Erin­nerung.“

Strom der Erinnerung

Für manche Autoren mag das Phänomen der Gle­ichzeit­igkeit ein Prob­lem darstellen, denn der Plot ver­langt eine Rei­hen­folge. Kon­rád ste­ht über solchen Beschränkun­gen. Das Bewusst­sein fol­gt kein­er Chronolo­gie, son­dern springt von einem Ereig­nis der Ver­gan­gen­heit in die Gegen­wart und hält bei alle­dem ein teils erhofftes teils gefürchtetes Zukun­fts­bild lebendig. Diese Transluzid­ität und Gle­ichzeit­igkeit des Bewusst­seins fängt Kon­rád in seinem Text ein.

Györ­gy Kon­rád über­lebt in Budapest die Nazi-Okku­pa­tion unter dem Schutz eines Schweiz­er Botschaft­sange­höri­gen. Auch seine Eltern, die im Mai 1944 deportiert wur­den, über­lebten. Anschließend studierte Kon­rád in Budapest Lit­er­atur­wis­senschaft und Sozi­olo­gie bis zum Ungar­nauf­s­tand 1956.

In Sätzen, die selb­st wie zusam­men­hanglose Trüm­mer nebeneinan­der ste­hen, zeich­net er ein erschüt­tern­des Bild von Budapest 1956: „Budapester Trüm­mer­land­schaft. Aus­bran­nte, eingestürzte, zer­bombte Häuser oder durch Kanonenkugeln durch­löcherte Häuser, blinde Fen­ster…“ Leichen wur­den not­dürftig in Grü­nan­la­gen ver­schar­rt, über­all dort, wo lose Erde aufge­häuft wer­den kon­nte.

Begegnungen

An ander­er Stelle beschreibt Kon­rád eine Begeg­nung mit dem jugoslaw­is­chen Schrift­steller Dani­lo Kiš, der offen­bar ganz egal, wo er sich befand, der Mit­telpunkt eines Grav­i­ta­tions­feldes war. In dessen Nähe rekel­ten sich hüb­sche Frauen, um Dani­los Aufmerk­samkeit zu erhaschen. Auf die Welt­prob­leme ange­sprochen gab Kiš zu ver­ste­hen, dass „die men­schlichen Prob­leme wed­er gelöst wer­den kön­nten noch müssten“.

Der Assozi­a­tion­step­pich Kon­ráds führt den Leser auch zur Wannseekon­ferenz. Dazu schreibt Kon­rád: „Endlö­sung? Hier ste­he ich als ein Beispiel, dass es doch nicht vol­lkom­men gelun­gen ist.“ Das Grauen des Holo­caust bekommt ein Gesicht, wenn man erfährt: Abge­se­hen von seinen Cousins, sein­er älteren Schwest­er und ihm selb­st, seien alle Schulka­m­er­aden zusam­men mit seinen Cousi­nen in Gas und Feuer aus­gelöscht wor­den. Weit­er­hin schreibt er: „Von den moral­isierend Fra­gen­den wende ich mich ab und sage: Wed­er Rache noch Verge­bung! Die Täter müssen mit dem eige­nen Schuld­be­wusst­sein leben. Wie lange? Lebenslänglich. Der Mörder bleibt bis zu seinem Tod ein Mörder.“

Es ist ein zirkulär­er Gedanken­gang zu erken­nen. Im Fort­laufen des Denkens tauchen immer wieder wie ein unhin­terge­hbares Skan­dalon die Schulka­m­er­aden auf, die flankiert wer­den von Gedanken und Assozi­a­tio­nen über die Shoa, die Kind­heit etc.

Anfänge als Schriftsteller

Von 1959 bis 1965 arbeit­et Kon­rád als Jugend­schutzin­spek­tor für die Vor­mund­schafts­be­hörde eines Budapester Stadt­bezirks. 1968 erschien sein erster Roman. Schon die Veröf­fentlichung des zweit­en Romans „Der Stadt­grün­der“ war schwierig. Györ­gy fasst das in dem Satz zusam­men: „Auch Büch­er haben ihr Schick­sal.“ 1973 stellte er seinen zweit­en Roman fer­tig. Zur sel­ben Zeit wurde auch der Text „Intel­li­genz auf dem Weg zur Klassen­macht“ vol­len­det, der von vorn­here­in im Aus­land veröf­fentlicht wer­den musste. Daraufhin wur­den die Woh­nun­gen Kon­rads und des Mitver­fassers Iván Szelényi durch­sucht und abge­hört. Ein beträchtlich­er Teil der Tage­buch-Aufze­ich­nun­gen Kon­ráds wur­den kon­fisziert. Die bei­den Autoren wur­den wegen staats­feindlich­er Het­ze ver­haftet und erhiel­ten eine staat­san­waltliche Ver­war­nung. Im „Gäste­buch“ schreibt Kon­rád: „Nach­dem ich aus der Unter­suchung­shaft ent­lassen wor­den war, ver­suchte ich mich mit Budapest wieder anzufre­un­den. Ich stand an den Roll­trep­pen der Met­ro­sta­tio­nen und schaute den aus der Tiefe Aufteigen­den in die Augen: Wer von Ihnen würde mich nicht ans Mess­er liefern.“

Gewohnheiten, die bleiben

Das Manuskript für den zweit­en Roman war in einem Fach unter der Tis­ch­plat­te ver­steckt, die man hochk­lap­pen kon­nte. Kon­rád erzählt, dass, wenn er zum ersten Mal einen Raum betritt, sein Blick nach Ver­steck­en für Texte sucht. Erst 1977 erschien Kon­rads zweit­er Roman auf Ungarisch, wobei er zuvor auf Deutsch (1975) veröf­fentlicht wor­den war. Nach der Wende erschien der Roman auf Ungarisch in nicht zen­siert­er Fas­sung. Weil er zwis­chen 1978 und 1988 nicht pub­lizieren durfte, reiste Kon­rád durch Wes­teu­ropa, Ameri­ka und Aus­tralien. Das Pub­lika­tionsver­bot wurde erst 1989 aufge­hoben.

Eine Empfehlung wert

Im Gespräch mit Terézia Mora beteuert er, alle seine Büch­er gle­ich hoch zu schätzen. Das „Gäste­buch“ erfüllt aber zweifel­los alle Kri­te­rien für ein Lieblings­buch.

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