Wenn wir in einem verlassenen Zimmer stehen, eine Stereo-Anlage neben dem Bett und ein Poster an der Wand sehen, dann sind das bloße Gegenstände, die nur auf sich selbst verweisen. Und doch sind es Spuren, die uns vor Augen führen, was den Raum zu einem fremden Raum macht. Plötzlich erkennen wir die Abwesenheit, die all den Gegenständen um uns herum innewohnt. Der Raum entzieht sich uns, weil er auf einen anderen verweist, auf jemanden, der auf diesem Bett Musik gehört und der dieses Poster angebracht hat. Indem jemand diesen Raum bewohnte, hat er ihm einen transzendenten Sinn gegeben. Wenn wir nun das Zimmer vor uns sehen, erschließt sich uns vielleicht nicht sein Sinn und doch spüren wir die Abwesenheit eines anderen.
Anna Lehmann-Brauns und Julia Rosenbaum
Dieser Abwesenheit nachzuspüren, könnte man als leitendes Motiv der Fotografin Anna Lehmann-Brauns bezeichnen. Beim 8. Salon für Kunst und Kultur wurde die Künstlerin vorgestellt. Der Salon findet viermal im Jahr zu unterschiedlichen Themen statt und wird von der Fotografin Anett Stuth gemeinsam mit der Kunsthistorikerin Julia Rosenbaum veranstaltet. Neben einem Künstlergespräch, gab es die Möglichkeit in einer Werkschau einen Überblick über die letzten zwanzig Jahre aus dem Schaffen Anna Lehmann-Brauns zu erhalten. Die Moderation übernahm Julia Rosenbaum.
Der Charme des Verfalls
Wenn Anna Lehmann-Brauns davon spricht, was sie immer wieder aufs Neue fasziniert, dann ist es das Heruntergekommene, Schäbige, was aber dennoch seinen Glanz bewahrt hat. In ihren Fotografien ist genau dieser Bruch zwischen der aktuellen Wahrnehmung und einem unbestimmten Vorher spürbar. Dieses Vorher scheint das eigentliche Herzstück des Bildes zu sein. Im Vorhinein hat sich eine Geschichte ereignet und Geschichten sind es, die die Fotografin mit ihren Bildern verbindet.Ob es der Künstlerin um das aneignen von etwas Fremden geht?, fragt Julia Rosenbaum. Denn das Fremde scheint in Anna Lehmann-Brauns Fotografien immer anwesend zu sein. Es sind nicht zuletzt die Geschichten von Fremden, die sie mit ihrer Fotografie einfängt. Außerdem ist die Fremde für eine Künstlerin relevant, die sowohl in den USA als auch in China tätig war. Lehmann-Brauns betont, dass Fotografie für sie ein Mittel ist, um sich in der Welt zurechtzufinden.
Bitterblue
Immer wieder kommt Julia Rosenbaum auf das Thema der komponierten Räume zu sprechen. Erste Bekanntheit erlangte die Künstlerin nämlich durch die Serie „bitterblue“, in der sie Modelle in Puppenstubengröße – anfangs noch recht überladen und zuletzt ganz schlicht – fotografierte. Sie bilden den Grundstein für ihre weitere Arbeit und ihr Interesse an Räumen. Nach dem Abschluss ihrer Diplomarbeit im Jahr 2000 hat sie sich real großen Räumen zugewandt. Mit diesem Ansatz absolvierte sie die Meisterklasse bei Joachim Brohm an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig.
Wild Side West
Das Interesse für Räume ist zwar geblieben, doch spätestens der 5‑monatige Aufenthalt in San Francisco im Jahr 2016 macht die grundverschiedene Arbeitsweise evident. Anna Lehmann-Brauns entschied sich dafür, die lokalen Clubs der LGTB-Szene zu fotografieren. Schon rein zeitlich war es der Künstlerin nicht möglich die Bilder zu arrangieren. Notgedrungen musste sie mit dem arbeiten, was sie vorfand. Interessanterweise bedeutet das für die Künstlerin aber keinen Gegensatz zur modellbasierten Fotografie. In beiden Fällen geht es für sie darum, aus dem Chaos, das sich ihr darbietet, ein „komponiertes“ Bild herauszufiltern. Das Bild fügt sich im Blick der Künstlerin zu einem Arrangement zusammen.Und auch dem Betrachter ihrer Fotografien bieten sich die Räume in diesem Sinne dar. Wenn wir einen Raum betrachten, erschließen sich uns die Dinge in ihrem Utensilitätskomplex. Der Fotografin gelingt es, diese transzendente Struktur in ihren Fotografien einzufangen.
Letzter Vorhang
Ein anderes Projekt war die Serie „Letzter Vorhang“, bei der Anna Lehmann-Brauns 2018 ein halbes Jahr lang die Komödie am Kurfürstendamm fotografierte und damit den Abriss quasi begleitete. Die Künstlerin ist gegenüber vom Theater geboren und verbindet daher persönliche Erinnerungen damit. Als Betrachter ist man geneigt, sich ebenfalls mit dem Theater verbunden zu fühlen. Denn die Geschichten, die sich vorher dort abgespielt haben, sind auf den Fotografien beinahe greifbar.
Vorhin bekam ich eine SMS: „Treffen heute um Mitternacht an der synagoga staro“. Das kam mir komisch vor: “staro” passt doch vom Genus her gar nicht mit “synagoga” zusammen. Wo soll überhaupt die „Alte Synagoge“ sein?
Auch der Absender war mir unbekannt. Die Handynummer war unterdrückt und es hatte auch niemand einen Gruß hinterlassen. Trotzdem bildete ich mir ein, zu wissen, wer dahinter steckt. Das ganze roch mir arg nach Honsa, der oft auf solche Ideen kam.
Ich zerbrach mir nicht weiter den Kopf. Das ehemalige Judenviertel ist nicht groß, seitdem es vor 100 Jahren assaniert wurde. Auf dem Weg in die Stadt — mein Hotel liegt ziemlich weit draußen — las ich aus gegebenem Anlass im „Golem“ von Gustav Meyrink. Um 23 Uhr habe ich im Restaurant „Sedm konšelů“ in der Žatecká 10 zu Abend gegessen. Es hat sich zu einer Art Tradition entwickelt, dass ich immer, wenn ich in Prag bin, dorthin zum Entenessen gehe. Zwar war die gebratene Ente — wie immer, wenn man nicht zur Lunchzeit kam — schon aus, aber es gab genug anderes auf der Speisekarte. Mir ist alles mit Knedlicky recht. Von der Metrostation Staroměstská aus ist das Restaurant gut zu erreichen.
Im Restaurant hatte ich das ungewisse Gefühl, von jemanden beobachtet zu werden. Ich beachtete es nicht weiter, doch während ich anschließend die Zatecká entlang gehe, verstärkt sich dieser Eindruck. Gemessenen Schrittes laufe ich einige Meter und drehe mich dann ruckartig um: Die Straße ist völlig leer. Diese Verlassenheit schlägt mir wie etwas Unglückseliges auf den Magen. Die Dunkelheit der Nacht liegt auf der Umgebung, als wolle sie etwas verbergen. Das matte Licht der Straßenlaternen kommt dagegen nicht an. Beinahe glaube ich, dort ein Gesicht ausmachen zu können. Ich stiere in die Dunkelheit, um etwas zu erkennen. Da sehe ich, wie sich etwas bewegt. Ein dunkler Schatten, der riesenhaft auf mich zukommt. Mein Atem stockt. Abrupt reiße ich meinen Blick von der Stelle los und setze meinen Weg zügig fort. Wohin gehe ich eigentlich? Jetzt taucht vor mir eine Synagoge auf.
In diesem schummrig gelben Licht kann ich sie kaum erkennen. In den Fenstern spiegeln sich die Straßenlaternen wie grimmige Augen. Könnte das die „Alte Synogoge“ sein? Ich ziehe mein Handy aus der Handtasche und google hektisch nach den Synagogen in der Josefsstadt. Es handelt sich um die Pinkassynagoge. Rasch überfliege ich die Beschreibung: Die Pinkassynagoge wurde 1479 von Rabbi Pinkas als private Synagoge gegründet und im 16. Jahrhundert durch Elemente im Renaissancestil erweitert…
Diese Synagoge scheint mir nicht alt genug zu sein, als dass man sie „Alte Synagoge“ bezeichnen würde. Im Rücken spüre ich, wie mich etwas beharrlich belauert. Vom Eingang der Pinkassynagoge aus gehe ich die Široká geradeaus weiter. Links biege ich in die Meiselova ein.
Bald fällt mir ein Gebäude auf, das hinter Baugerüsten versteckt imposant in die Höhe ragt. Den Davidstern trägt es selbstbewusst vor sich her. Bei Google lese ich, dass es die Maiselsynagoge ist. Sie wurde im 16. Jahrhundert durch den wohlhabenden Bankier und Bürgermeister Mordechai Maisel erbaut.
Auch hier kann ich Honsa nirgends entdecken. Langsam beginne ich daran zu zweifeln, ob er die SMS tatsächlich geschrieben hat. Um mich herum gibt es nur Leere und Finsternis. An der Straßenecke höre ich etwas über das Pflaster stolpern. Ich zucke zusammen. Mein Blick erhascht gerade noch, wie eine dunkle Silhouette hinter einer Hausfassade verschwindet. Angespannt laufe ich auf die Stelle zu, wo die Gestalt gestanden hat, denn irgendetwas liegt dort auf dem Boden. Instinktiv greife ich danach: Es ist eine Hand, trocken, staubig. Sie ist in einer grotesken Greifhaltung erstarrt. Sie besteht aus Lehm. Verdutzt blicke ich auf diesen Fremdkörper, der schwer in meiner Hand liegt. Ich wage nicht, ihn auf den Boden fallen zu lassen, und lege ihn wie ein Kleinod sorgsam dorthin zurück, wo ich ihn gefunden habe.
Ohne darauf zu achten, wohin ich gehe, finde ich mich unversehens auf der Široká wieder und laufe geradeaus auf die Vězeňská zu. Ich fühle mich, als wäre die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit aufgelöst. Eingehüllt in mattes, schlaftrunkenes Licht ist alles seltsam entfremdet. Mir ist, als ob ich träume.
Da taucht plötzlich ein Mann vor mir auf! Wo sich der Kopf befinden sollte, sitzt neckisch ein Männeken. Überdeutlich prägt sich mir ein, dass ihm eine Hand fehlt. Ich muss an die Lehmhand denken, die auf dem Boden lag…
“Der Golem!”, schießt es mir durch den Kopf. Er ist das unfertige Geschöpf, das von Menschenhand aus Lehm geschaffen wurde. Es ist weder lebendig noch tot. Nur durch geheimnisvolle Formeln kann es belebt werden. Ich zwinge mich dazu, rational zu sein, und sage immer wieder vor mich hin: “Das ist bloß eine Statue!”
Die Spanische Synagoge, die neben der Statue steht, beachte ich gar nicht. Sie wurde im 19. Jahrhundert an der Stelle erbaut, wo im 11. Jahrhundert eine byzantinische Synagoge stand.
Schlafwandelnd streife ich weiter durch die Gassen. Grimassen glotzen von den Hausfassaden herab.
Von der Vězeňská irre ich zurück auf die Široká und biege in die Meiselova nach links ein. Dort treffe ich auf eine andere Synagoge. Google verrät mir, dass es die älteste Synagoge Europas ist: Die Altneusynagoge wurde 1275 erbaut. Den Namen trägt sie, weil es zur Zeit ihrer Erbauung bereits eine ältere Synagoge gab und im 16. Jahrhundert eine eine neue Synagoge gebaut wurde. Sowohl die Alte Synagoge als auch die Neue Synagoge wurden im Zuge der Assanierung zerstört; nur die Altneusynagoge blieb erhalten.
Bestürzt lese ich den Satz noch einmal: Es gibt keine Alte Synagoge. Stand denn nicht in der SMS, dass wir uns an der Alten Synagoge treffen? Schlagartig wird mir die tschechische Bezeichnung der Altneusynagoge bewusst: Staronová synagoga. In der SMS stand, dass wir uns an der synagoga staro… treffen. Gemeint ist staronová. Hier soll ich ihn treffen! Aber warum brach die SMS an dieser Stelle ab?
Ich drehe mich suchend um. Da bemerke ich, dass ein Mann direkt hinter mir steht. Ich bringe nur einen stummen Schrei hervor. Ich kann in der Dunkelheit das Gesicht nicht erkennen. Dessen Kleidung ist altmodisch und abgewetzt. Ungelenk bewegt sich sein Arm nach oben. Wie gebannt starre ich auf seine Hand. In der Dunkelheit wirkt sie fahl und grobschlächtig. Unvermittelt greift sie fest an meinen Hals. Entsetzt entwinde ich mich seinem Griff.
Ich renne kopflos in eine Gasse links von der Altneusynagoge hinein. Es kommt mir vor, als würde ich einen Tunnel entlang laufen, der nur in eine Richtung führt.
Wie das Licht die Motten anzieht, stürze ich auf das Haus am Ende der Gasse zu. Jeden Moment fürchte ich, den harten, unbarmherzigen Griff an meinem Nacken zu spüren.
Ich kann keinen Gedanken fassen. Stattdessen fühle ich meinen Herzschlag dröhnend gegen meine Schläfen pochen. Dieses Pochen kommt mir vor, wie die prasselnden Körner einer versiegenden Sanduhr.
Ich atme hastig und doch bekomme ich kaum Luft. Am Ende der Gasse angekommen, erkenne ich, dass dort ein Friedhof ist.
Am Ende des Tunnels gibt es kein Licht. Der Toreingang ist verschlossen und dahinter ist nichts als Dunkelheit. Mir wird Schwarz vor Augen und ich sinke vor dem Toreingang des Friedhofes zusammen.
Das Pochen wird lauter. Ich spüre die weichen Polster des Sofas unter mir. Auf dem Couchtisch liegt “Der Golem”. Draußen höre ich jemanden meinen Namen rufen und gegen das Türblatt pochen. Das ist Honsa, denke ich. Langsam dämmert mir, das ich mit ihm verabredet bin und auf ihn gewartet habe. Ich muss dabei eingeschlafen sein. Es ist erstaunlich, dass sich mir die Josefsstadt so detailliert ins Bewusstsein eingebrannt hat.
Die moderne Literaturwissenschaft hat für das Werk bestimmter Autoren die Bezeichnung „Prager deutsche Literatur“ eingeführt. Diesen Autoren ist es gemeinsam, dass sie Ende des 19. Jahrhunderts in Prag geboren wurden und größtenteils jüdisch waren.
Sie führten ein Leben in drei Welten: in der tschechischen, der deutschen und in der jüdischen Kultur. Das Zusammentreffen dieser Kulturen verlief nicht unbedingt reibungslos: In Prag lebten mehrheitlich Slawen. Zunehmend unzufrieden mit ihrer untergeordneten Position in der k. u. k. Monarchie folgten viele Tschechen nationalistischen Bewegungen, die 1848 im Sklawenkongress und im Prager Pfingsaufstand mündeten. Für das Zusammenleben zwischen der slawischen und der deutschsprachigen Bevölkerung ergaben sich daraus Spannungen. Nachdem die nationalistischen Bestrebungen seitens des habsburgisch-lothringischen Herrscherhauses lange Zeit unterdrückt worden waren, wurde Böhmen 1871 bestimmte Rechte zugestanden. Das führte zu einem ökonomischen Aufschwung, von dem sicherlich auch jüdische Kaufleute profitierten. Verbunden mit einem aufkeimenden Antisemitismus lieferte diese Entwicklung zusätzliches Konfliktpotential. Mit der Invasion der Nationalsozialisten 1939 nahm die Prager deutsche Literatur ein abruptes Ende.
Auf der anderen Seite kann die Zeit um die Jahrhundertwende als ein Höhepunkt in der Geschichte angesehen werden: Prag florierte sowohl ökonomisch als auch kulturell und stieg zur Weltmetropole auf. Das verdankte sie der bürgerlichen intellektuellen Elite, die sich nicht zuletzt aus den Prager deutschen Autoren rekrutierte. Diese konnten durch ihre mehrsprachige Erziehung die multikulturelle Atmosphäre Prags in besonderer Weise erleben. Durch ihre Kreativität verdichteten sie ihre Erfahrungen zu großer Literatur. So haben sie letztlich alle drei Kulturen bereichert.
Lassen Sie uns gemeinsam die Geburtshäuser einiger dieser Autoren aufzusuchen, auch wenn die Chance, die Autoren dort anzutreffen eher gering ist.
Treffpunkt: Kavárna Arco (12:00 Uhr)
Beginnen Sie den Stadtrundgang bei der Kavárna Arco in der Dlážděná 1004/6 Ecke Hybernská 1004/16, 110 00 Praha 1.
Zur Hybernská gelangen Sie, indem Sie am Masarykovo nádraží aussteigen und die Havlíčkova nach Süden gehen, d. h. vom Hauptausgang des Bahnhofs aus nach links. Leider ist das Café heute geschlossen.
In diesem Café traf sich regelmäßig der sogenannte „Prager Kreis“, um über Literatur und Philosophie zu debattieren. Dazu gehörten u. a. Max Brod und Franz Kafka, die wir später besuchen werden. Auch Franz Werfel zählt im weiteren Sinne zum „Prager Kreis“.
Franz Werfel (12:05 Uhr)
*10. September 1890 in Prag, Monarchie Österreich-Ungarn † 26. August 1945 in Beverly Hills, Kalifornien, Vereinigte Staaten
Unser erster Hausbesuch gilt Franz Werfel. Er wurde in der Havlíčkova 1043/11; 110 00 Praha-Praha 1 geboren. Vom Café Arco aus gehen Sie dieselbe Straße einige Meter zurück. In der Hausnummer 1043/11 wurde Franz Werfel geboren.
Werfel kam als Sohn eines wohlhabenden Handschuhfabrikanten zur Welt. Die Familie war jüdisch, doch sein christliches Kindermädchen und der Besuch der ebenfalls christlichen Privatschule der Piaristen prägten ihn. Er war befreundet mit Max Brod, der dessen Talent erkannte und förderte. 1929 konvertierte Werfel zum Katholizismus, um Alma Mahler heiraten zu können. Das strapazierte die Freundschaft zu Brod, der selbst dem Zionismus nahestand. Zu Werfels Hauptwerken zählt „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ (1933).
Max Brod (12:20 Uhr)
* 27. Mai 1884 in Prag, Monarchie Österreich-Ungarn † 20. Dezember 1968 in Tel Aviv, Palästina
Max Brod kam nicht weit von Werfels Geburtshaus entfernt zur Welt, nämlich in der Haštalská 1031/25, 110 00 Praha-Praha 1.
Gehen Sie die Havlíčkova geradeaus weiter und biegen Sie in die nächste Querstraße, die Na Poříčí nach links ein. Diese führt Sie auf den Náměstí Republiky. Vom Platz aus biegen Sie nach rechts in die Revoluční ein. Laufen Sie geradeaus, bis Sie links zur Dlouhá kommen. Von dort biegen Sie rechts in die Hradební ein und dann links in die K Haštalu. Daraufhin laufen Sie direkt auf Brods Geburtshaus in der Haštalská zu.
Max Brod wurde in eine großbürgerliche jüdische Familie hineingeboren. Früh kam er mit Literatur und klassischer Musik in Berührung. Er begann ein Jurastudium an der deutschsprachigen Karl-Ferdinands-Universität und schloss währenddessen Freundschaft mit seinem Kommilitonen Franz Kafka. Bereits 1906 veröffentlichte er eine Novellensammlung und baute in den folgenden Jahren sein Renommée als Schriftsteller aus.
Er besaß die Urteilskraft, das literarische Talent anderer Autoren zu erkennen. Sein Erfolg ermöglichte es ihm, deren Karriere zu fördern. So ist er auch als Entdecker und Mentor verschiedener Autoren bedeutsam. Darüber hinaus komponierte er selbst Musik. 1939 emigrierte er nach Palästina.
Franz Kafka war eng mit Max Brod und Franz Werfel befreundet. Nach ihm wurde der Platz vor seinem Geburtshaus benannt: Náměstí Franze Kafky 24/3, 110 00 Praha-Praha 1. Von Brods Geburtshaus aus laufen Sie die Haštalská nach links. Anschließend folgen Sie der Kozí und der Dlouhá in der selben Richtung bis zum Staroměstské náměstí. Gehen Sie auf dem Platz gleich nach rechts an der Pařížská und der Kirche „Svatého Mikuláše“ vorbei. Hinter der Kirche befindet sich der Náměstí Franze Kafky.
Kafka entstammt einer jüdischen Kaufmannsfamilie. Nach dem Besuch der Deutschen Knabenschule und dem deutschsprachigen Staatsgymnasium immatrikulierte er sich nach mehreren Fachwechseln für Jura an der Karl-Ferdinands-Universität. Nach dem Abschluss arbeitete er für verschiedene Versicherungsgesellschaften. Sein unverkennbarer Schreibstil und seine surrealen Fantasielandschaften machten ihn als Autor weltberühmt. Die Mehrzahl seiner Werke wurde jedoch posthum veröffentlicht, was teils an seinem selbstkritischen Perfektionismus und teils an seinem frühen Tod lag.
Egon Erwin Kisch (12:50 Uhr)
* 29. April 1885 in Prag, Monarchie Österreich-Ungarn † 31. März 1948 in Prag, Tschechisch-Slowakische Republik
Egon Erwin Kisch wurde als Egon Kisch in eine jüdische Familie hineingeboren. Sein Vater war Tuchmacher. In der Melantrichova 475/16 / Kožná 475/1, 110 00 Praha-Praha 1, wo er geboren wurde, befand sich im Erdgeschoss die Tuchhandlung des Vaters.
Zunächst besuchte Kisch eine Schule im Servitenkloster zu St. Michael und wechselte dann auf die Piaristenschule, die auch Franz Werfel besucht hat. Als er sein erstes Gedicht veröffentlichte, wählte er das Pseudonym Erwin, da es seine Schule verbot in der Presse zu publizieren. Später begann er wie Brod und Kafka an der Karl-Ferdinandsuniversität zu studieren. Allerdings besuchte er Vorlesungen zur Geschichte der deutschen Literatur und zur Geschichte der mittelalterlichen Philosophie. Nach Ableisten des Militärdienstes arbeitete er für das „Prager Tagblatt“ und dann für die Prager Tageszeitung „Bohemia“. Er lernte Brod, Kafka, und Rilke kennen. Sowohl als Journalist als auch als belletristischer Autor hat er sich einen Namen gemacht.
Rainer Maria Rilke (13:05 Uhr)
* 4. Dezember 1875 in Prag, Monarchie Österreich-Ungarn † 29. Dezember 1926 im Sanatorium Valmont bei Montreux, Schweiz
Rainer Maria Rilke wurde als René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke als Sohn eines Bahnarbeiters und einer jüdischen Fabrikantentochter geboren. Er wuchs in der Jindřišská 889/17, 110 00 Praha 1‑Nové Město auf.
Gehen Sie auf der Melantrichova weiter in Richtung des Wenzelsplatzes. Überqueren Sie Na můstku und laufen Sie auf dem Václavské náměstí bis zur Jindřišská, die sich auf der linken Seite befindet. An seinem Geburtshaus befindet sich keine Gedenktafel, da die heutigen Besitzer das ablehnen.
Stattdessen wurde eine Gedenktafel an der ehemaligen Piaristen-Schule in der Na příkopě 16 angebracht.
Rilkes Mutter versuchte den Tod seiner älteren Schwester zu kompensieren, indem sie ihn während seiner ersten Lebensjahre wie ein Mädchen aufzog. René bedeutet „der Wiedergeborene“. Anfangs besuchte er wie andere Vertreter der Prager deutschen Literatur die Piaristen-Schule. Sein Vater, der gerne eine militärische Karriere verfolgt hätte, schickte den Sohn mit zehn Jahren an eine Militärrealschule in Österreich. Sechs Jahre später musste Rilke die militärische Ausbildung gesundheitsbedingt aufgeben. Ebenso scheiterte der Versuch an einer Handelsakademie einen Abschluss zu erwerben, diesmal wegen einer verbotenen Liaison. Daraufhin nahm Rilke in Prag Privatunterricht und legte sein Abitur ab. Anschließend studierte er in München Jura. In seinen Gedichten erreichte er eine einmalige Ausdruckskraft. Daneben verfasste er auch den Roman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ (1910).
Eine Vortragsreihe der Konrad-Adenauer-Stiftung zum Thema „20. Juli 1944 — Vermächtnis und Zukunftsauftrag“ nahm Bundespräsident a.D. Joachim Gauck an diesem Mittwoch zum Anlass, an unsere ureigenste Seinsweise zu appellieren: Die Freiheit.
Freiheit vs Ohnmacht
Unter dem Vorzeichen, nicht den real existierenden Sozialismus der DDR mit dem Nationalsozialismus gleichzusetzen, erzählt Joachim Gauck von Episoden aus seinem Leben, wie er sie in der Diktatur der Kommunisten erlebt hat.
Entscheidungen, die man heutzutage selbstverständlich trifft, beispielsweise auf welcher weiterführenden Schule man sein Kind anmelden soll, wurde in der DDR fremdbestimmt. Nach Gauck stellt sich mit der Zeit ein Gefühl ein, dass man gelebt wird. So lerne man — auch in einer Diktatur, die nicht mordet und keine Konzentrationslager hat, sondern nur in den ernsteren Fällen nach wirklich üblen Repressalien greift — ganz schnell, sich an Ohnmacht zu gewöhnen.
Doch dieses Gefühl der Ohnmacht hängt nach Gauck keineswegs mit der Staatsform zusammen, sondern mit einem Paradox der menschlichen Existenz. Neben der Sehnsucht nach Freiheit spüre der Mensch zugleich eine Furcht vor der Freiheit. Denn als freie Menschen sehen wir uns mit einer Fülle von Möglichkeiten konfrontiert und erkennen zugleich, dass wir „die Bestimmer“ unseres Lebens sind. Ohnmacht habe insofern auch etwas Verführerisches. Nicht jeder Mensch eigne sich dazu, seine Freiheit selbstbestimmt zu affirmieren.
Wer sich seiner Freiheit bewusst wird, spüre zugleich die Last seiner Verantwortung. Häufig suche man dann nach Möglichkeiten, seine Verantwortung abzugeben, weil man sich nicht für befähigt genug halte. In der Diktatur wie in der Demokratie ist man laut Gauck in Versuchung, sich für nicht zuständig zu erklären. Wenn man dem nachgibt, sei das eine freiwillige Einkehr in ein Areal von Ohnmacht. In dieser Situation könne uns die Vergangenheit eine Stütze sein. Denn die großen Namen des Widerstands können uns in dem Gefühl bestärken, dass wir eine Wahl haben. In der Diktatur wie in der Demokratie haben wir die Wahl „das weniger Schlechte oder das etwas Bessere, das etwas Menschlichere, das etwas Mutigere“ zu tun.
Die Gabe der Verantwortung
Gauck bezeichnet es als „Gabe“, dass wir verantwortungsbewusst sind, dass wir den Mut haben können, uns selbst als verantwortungsfähige Wesen zu begreifen. Dieses Bewusstsein von Freiheit ist nach Gauck der Inbegriff von Demokratie: „Wir erklären uns für zuständig.“ Um diese Rolle in der Demokratie zu erlernen, brauchen wir Menschen, die uns etwas von Werten erzählen und die uns diese Werte vorleben.
Es geht also laut Gauck nicht darum, sich zu fragen, ob man zum Märtyrer taugt, sondern darum, welche Fähigkeit man hat, an der man wachsen kann, und in welchem Maße einem das Vorbild dieser Widerstandskämpfer hilft, die eigenen Schwächen zu minimieren.
Über die Knochenarbeit eines Rechtsmediziners sprach Prof. Dr. Marcel A. Verhoff, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Frankfurt am Main, an diesem Mittwoch in der hessischen Landesvertretung.
Ein Schwerpunkt des Institutes liegt auf der forensischen Entomologie, also auf der wissenschaftlichen Erforschung von Insekten zur Aufklärung von Verbrechen. Das Institut für Rechtsmedizin in Frankfurt ist europaweit eines der forschungsstärksten Einrichtungen auf diesem Gebiet. Ein anderes Spezialgebiet der Rechtsmedizin ist die forensische Osteologie, die dann zum Einsatz kommt, wenn vom Menschen nur noch Knochen übrig sind. Es geht also um echte Knochenarbeit — wie der Titel der Veranstaltung schon nahelegt: „CSI oder Knochenarbeit? Forensische Osteologie in der modernen Rechtsmedizin“.
Die Rechtsmedizin als Wissenschaft
Ein Tathergang wird mitunter vom Tatverdächtigen, vom vermeintlichen Opfer und von beteiligten Zeugen unterschiedlich beschrieben. Wenn es darum geht, solche Szenarien zu beurteilen, werden von den Rechtsmedizinern Wahrscheinlichkeitsangaben gefordert. Im Strafrecht wird die an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit vorausgesetzt. Die Rechtsmedizin ist daher auf eine gut dokumentierte Beweislage angewiesen. Ihre Aussagen trifft sie mit Bedacht, denn nur in einem von tausend Fällen wird ihr ein Irrtum zugestanden.
Um dem eigenen wissenschaftlichen Anspruch zu genügen, ist die Rechtsmedizin mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass es nur geringe Fallzahlen gibt. Manchmal gründen Erkenntnisse auf Einzelfällen. Daher kommt es darauf an, die einzelnen Fälle so gut wie möglich auszuarbeiten bzw. nachzuarbeiten: In Studien werden häufig Re-Evaluationen durchgeführt, um ein bestimmtes Phänomen zu validieren. Die Publikation von Fallbeispielen gestaltet sich für die Rechtsmedizin aufgrund des publication bias und nationaler rechtlicher Eigenheiten schwierig.
Was uns ein Knochen zu sagen hat
In der Praxis lässt schon ein einzelner Knochen Rückschlüsse auf das Geschlecht und die Körpergröße des Verstorbenen zu. Statistisch gesehen habe Männer längere Beine als Frauen, d. h. ein langer Gliedmaßenknochen deutet auf einen Mann hin. Es gibt darüber hinaus verschiedene Formeln zur Rekonstruktion der Körpergröße zum Beispiel von Herbert Bach aus dem Jahr 1965. Allerdings müssen dabei Schwankungen innerhalb einer Population berücksichtigt werden. Heutzutage werden virtuelle Knochen aus postmortalen Computertomografien als Referenz herangezogen. Das Alter eines Menschen kann beispielsweise aufgrund der Schädelnaht rekonstruiert werden, denn diese Naht verschließt sich mit zunehmenden Alter. Ein Forschungsprojekt an der Universität Gießen hatte das Ziel, diese Rekonstruktionsleistung zu automatisieren.
Professor Verhoff verwies auch auf einige Anwendungsbeispiele aus der Praxis. So konnte man interessante Einblicke in die hessische Kriminalgeschichte gewinnen und in den Beitrag, den die Rechtsmedizin zur Aufklärung leisten konnte.
Seit einem Jahr ist Matthias Schulz alleiniger Intendant der Staatsoper Berlin. Beim 58. Pariser Platz der Kulturen berichtete er im Gespräch mit der Moderatorin Petra Gute von Strategien, die das Traditionshaus mit Leben füllen sollen.
Dabei kennt er keine Altersbeschränkung, vielmehr sind gerade junge Menschen angesprochen. Um junge Surfer direkt zu erreichen, bedient die Staatsoper sämtliche Social Media Kanäle. Dabei ist sie nicht einmal eigennützig, sondern will einfach das überbordende, unmittelbare Erlebnis „Oper“ mit seinem Publikum teilen.
Nachwuchspublikum
Das ist ein Initialmoment, meint Matthias Schulz, der einen Kontakt zur Oper in jungen Jahren für unabdingbar hält. Kinder- und Jugendarbeit wird aber auch sonst an der Staatsoper großgeschrieben: Junge Musiker*innen dürfen sich etwa im Kinderorchester bewähren, wobei angehende Kulturjournalist*innen Rezensionen verfassen.
Wie unterschiedlich Opernerlebnisse ausfallen, hängt zum Großteil an der Inszenierung. Die Staatsoper präsentiert eine große Bandbreite an Inszenierungen unter Umständen auch ein und desselben Werkes, wie am Beispiel der „Zauberflöte“ von Yuval Sharon bzw. August Everding derzeit zu sehen ist.
Nachwuchskünstler
Natürlich möchte nicht nur das Nachwuchspublikum für die Staatsoper gewonnen werden, sondern auch die Nachwuchskünstler. Dafür hat die Staatsoper 2007 ein internationales Opernstudio ins Leben gerufen, der aktuell unter anderem Sarah Aristidou angehört, die an diesem Abend eine Kostprobe ihrer Kunst gab. Ein anderes Format ist die Orchesterakademie, die als Teil der Staatskapelle Berlin jungen Instrumentalist*innen die Möglichkeit bietet während des Studiums schon Bühnenluft zu schnuppern.
Wer sagt, dass Oper elitär und weltfremd wäre? – niemand, den ich kenne. Und die anderen können sich gerne vom Gegenteil überzeugen lassen. Der Spielplan dieser Saison spricht im Übrigen für sich selbst.
György Konrád schreibt im Vorwort seines neu erschienenen Werkes: „Ich mag Bücher, bei denen man nach jedem Satz eine Pause einlegen muss.“ Unter dem Titel „Gästebuch. Nachsinnen über die Freiheit“ ist es im Suhrkamp-Verlag erschienen. Wer Konráds Anspruch teilt, muss dieses Buch mögen.
An diesem Mittwoch stellte der Autor es im Max-Liebermann-Haus vor. Zur Einführung sinnierte Professor Peter-Klaus Schuster, ein Vorstandsmitglied der Stiftung Brandenburger Tor, darüber, welchem Genre der Text wohl zuzurechnen sei, und greift damit die ersten Passagen des Buches auf. Insgesamt ist das Buch von einem reflektierenden, selbstkritischem und erfahrungsreichen Geist erfüllt.
Kindheit im Zweiten Weltkrieg
1933 in einem ungarischen Dorf geboren, entkam Konrád als 11-Jähriger knapp den Nazi-Schergen. Im Buch räumt er ein Schuldbewusstsein ein, das er seit frühester Kindheit empfunden habe, „nämlich dass hier etwas nicht in Ordnung sei und ich mich nur deshalb, weil wir ein wohlhabenderes Leben führten als die Anderen, vielleicht schämen müsse.“
Immer wieder ruft Konrád Menschen aus seiner Vergangenheit herbei. Gedanken über seine Rolle als Familienvater schließen an Gedanken an das Eheleben der Eltern an. Mütter verdienen Dank, schreibt Konrád. Aber auch die Väter würden ihr Schicksal tragen: „Aus jüdischem Arbeitsdienst, aus Kriegsgefangenschaft heimgekehrte Väter, als Kriegsverbrecher aufgehängte Väter, im Gefängnis gebrochene, vor Angst verblödete Väter…“ Die Menschen tragen in Konráds Gedankenwelt nicht nur ihr eigenes Schicksal, sondern werden gleichsam zum Schicksal für andere. Die Eltern prägen das Leben ihrer Kinder. Die Schwester ist für Konráds Mutter noch lebendig, auch als sie bereits verstorben war. Konrád bringt dies auf die Sentenz: „Wie die Füße das Laufen, so braucht der Mensch die Erinnerung.“
Strom der Erinnerung
Für manche Autoren mag das Phänomen der Gleichzeitigkeit ein Problem darstellen, denn der Plot verlangt eine Reihenfolge. Konrád steht über solchen Beschränkungen. Das Bewusstsein folgt keiner Chronologie, sondern springt von einem Ereignis der Vergangenheit in die Gegenwart und hält bei alledem ein teils erhofftes teils gefürchtetes Zukunftsbild lebendig. Diese Transluzidität und Gleichzeitigkeit des Bewusstseins fängt Konrád in seinem Text ein.
György Konrád überlebt in Budapest die Nazi-Okkupation unter dem Schutz eines Schweizer Botschaftsangehörigen. Auch seine Eltern, die im Mai 1944 deportiert wurden, überlebten. Anschließend studierte Konrád in Budapest Literaturwissenschaft und Soziologie bis zum Ungarnaufstand 1956.
In Sätzen, die selbst wie zusammenhanglose Trümmer nebeneinander stehen, zeichnet er ein erschütterndes Bild von Budapest 1956: „Budapester Trümmerlandschaft. Ausbrannte, eingestürzte, zerbombte Häuser oder durch Kanonenkugeln durchlöcherte Häuser, blinde Fenster…“ Leichen wurden notdürftig in Grünanlagen verscharrt, überall dort, wo lose Erde aufgehäuft werden konnte.
Begegnungen
An anderer Stelle beschreibt Konrád eine Begegnung mit dem jugoslawischen Schriftsteller Danilo Kiš, der offenbar ganz egal, wo er sich befand, der Mittelpunkt eines Gravitationsfeldes war. In dessen Nähe rekelten sich hübsche Frauen, um Danilos Aufmerksamkeit zu erhaschen. Auf die Weltprobleme angesprochen gab Kiš zu verstehen, dass „die menschlichen Probleme weder gelöst werden könnten noch müssten“.
Der Assoziationsteppich Konráds führt den Leser auch zur Wannseekonferenz. Dazu schreibt Konrád: „Endlösung? Hier stehe ich als ein Beispiel, dass es doch nicht vollkommen gelungen ist.“ Das Grauen des Holocaust bekommt ein Gesicht, wenn man erfährt: Abgesehen von seinen Cousins, seiner älteren Schwester und ihm selbst, seien alle Schulkameraden zusammen mit seinen Cousinen in Gas und Feuer ausgelöscht worden. Weiterhin schreibt er: „Von den moralisierend Fragenden wende ich mich ab und sage: Weder Rache noch Vergebung! Die Täter müssen mit dem eigenen Schuldbewusstsein leben. Wie lange? Lebenslänglich. Der Mörder bleibt bis zu seinem Tod ein Mörder.“
Es ist ein zirkulärer Gedankengang zu erkennen. Im Fortlaufen des Denkens tauchen immer wieder wie ein unhintergehbares Skandalon die Schulkameraden auf, die flankiert werden von Gedanken und Assoziationen über die Shoa, die Kindheit etc.
Anfänge als Schriftsteller
Von 1959 bis 1965 arbeitet Konrád als Jugendschutzinspektor für die Vormundschaftsbehörde eines Budapester Stadtbezirks. 1968 erschien sein erster Roman. Schon die Veröffentlichung des zweiten Romans „Der Stadtgründer“ war schwierig. György fasst das in dem Satz zusammen: „Auch Bücher haben ihr Schicksal.“ 1973 stellte er seinen zweiten Roman fertig. Zur selben Zeit wurde auch der Text „Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht“ vollendet, der von vornherein im Ausland veröffentlicht werden musste. Daraufhin wurden die Wohnungen Konrads und des Mitverfassers Iván Szelényi durchsucht und abgehört. Ein beträchtlicher Teil der Tagebuch-Aufzeichnungen Konráds wurden konfisziert. Die beiden Autoren wurden wegen staatsfeindlicher Hetze verhaftet und erhielten eine staatsanwaltliche Verwarnung. Im „Gästebuch“ schreibt Konrád: „Nachdem ich aus der Untersuchungshaft entlassen worden war, versuchte ich mich mit Budapest wieder anzufreunden. Ich stand an den Rolltreppen der Metrostationen und schaute den aus der Tiefe Aufteigenden in die Augen: Wer von Ihnen würde mich nicht ans Messer liefern.“
Gewohnheiten, die bleiben
Das Manuskript für den zweiten Roman war in einem Fach unter der Tischplatte versteckt, die man hochklappen konnte. Konrád erzählt, dass, wenn er zum ersten Mal einen Raum betritt, sein Blick nach Verstecken für Texte sucht. Erst 1977 erschien Konrads zweiter Roman auf Ungarisch, wobei er zuvor auf Deutsch (1975) veröffentlicht worden war. Nach der Wende erschien der Roman auf Ungarisch in nicht zensierter Fassung. Weil er zwischen 1978 und 1988 nicht publizieren durfte, reiste Konrád durch Westeuropa, Amerika und Australien. Das Publikationsverbot wurde erst 1989 aufgehoben.
Eine Empfehlung wert
Im Gespräch mit Terézia Mora beteuert er, alle seine Bücher gleich hoch zu schätzen. Das „Gästebuch“ erfüllt aber zweifellos alle Kriterien für ein Lieblingsbuch.