Magazin für Kultur

Autor: Jörg Raach (Seite 2 von 4)

Treffendes Zeitpanorama

Die Krim­i­nal­ro­mane um Kom­mis­sar Gere­on Rath, die mit diesem zehn­ten Band ihren Abschluss find­en, sind vor allem deshalb sehr lesenswert, weil sie nicht nur span­nende Hand­lun­gen, tre­f­fende Per­so­n­en- und Milieubeschrei­bun­gen bieten, son­dern Zeit­panora­men bieten, deutsche Zeit­geschichte erleb­bar machen. Über­wiegend spie­len die Romane in Berlin, das ken­nt­nis­re­ich und pointiert geschildert wird („Stadt voller unge­ho­bel­ter Ego­is­t­en…“ S. 134). Die Buchrei­he begann zum Ende der Weimar­er Repub­lik und endet jet­zt mit der aus mehreren Per­spek­tiv­en geschilderten Pogrom­nacht Novem­ber 1939, der erste Höhep­unkt der Juden­ver­fol­gun­gen. Das Wesen des NS-Ter­rorsys­tem wird in fast allen Begeg­nun­gen und Hand­lungssträn­gen des Romans erleb­bar, insofern ist er keine angenehme Lek­türe, wenn auch sel­tene Glücksmo­mente (wie das Leben in Ade­nauers Fam­i­lie oder die Fre­und­schaft Friedrichs mit einem Jun­gen aus jüdis­ch­er Fam­i­lie) geschildert wer­den und manche beson­ders bru­tale NS-Amt­sträger gerächt wer­den. Volk­er Kutsch­ers Romane bilden die Grund­lage für die  Kult­serie „Baby­lon Berlin“. Die Sky- und ARD-Serie gilt als eine der erfol­gre­ich­sten deutschen Fernseh­pro­duk­tio­nen, ist aber weit reißerisch­er, ent­fer­nt sich oft von den so gelun­genen Roman­vor­la­gen.

Volk­er Kutsch­er: Rath, 624 Seit­en, Hard­cov­er mit Schutzum­schlag  Piper Ver­lag, München, Okto­ber 2024, EAN 978–3‑492–07410‑0, 26.00  €.

Der andere Impressionismus

Dieses her­aus­ra­gende Kat­a­log­buch zur aktuellen Ausstel­lung im Kupfer­stichk­abi­nett Berlin und im Bar­beri­ni Pots­dam (24. Sep­tem­ber 2024 bis 12. Jan­u­ar 2025) begeis­tert, weil es mehr bietet als die Ausstel­lung selb­st. Die Möglichkeit, diesen Höhep­unk­ten der Grafik-Kun­st eine ver­tiefte Betra­ch­tung zukom­men zu lassen, gibt es nur in diesem Buch (in den bei­den Ausstel­lun­gen kann man diesen meist kle­in­for­mati­gen Werken nicht näher treten, zudem muss oft stel­len­weise ein Lichtschutz abgenom­men wer­den). Diese Ausstel­lun­gen machen bewusst, dass es auch in der Grafik schon früh impres­sion­is­tis­che Strö­mungen gab (früher als in der ersten Impres­sion­is­ten Ausstel­lung im Jahr 1874, die jet­zt der Anlass für das 150jährige Jubiläum ist). Son­nenaufgänge, Seerosen, far­bige Licht- und Schat­ten­ef­fek­te. Fast jed­er hat eine Vorstel­lung davon, was ein impres­sion­is­tis­ches Bild aus­macht. In der inter­na­tionalen Druck­grafik sind atmo­sphärische Phänomene – von blenden­der Sonne, über Regen, Dun­st, bis hin zu Smog – gle­ich­falls häu­figer Gegen­stand: Auch Maler­radier­er haben zum Teil direkt vor der Natur und mit der für diesen Stil charak­ter­is­tis­chen Spon­tan­ität Werke von hoher kün­st­lerisch­er Indi­vid­u­al­ität entste­hen lassen, in denen die Welt neu gese­hen wird. Über­ar­beitun­gen machen aus jedem Abzug ein Orig­i­nal. Das Berlin­er Kupfer­stichk­abi­nett präsen­tiert 110 sel­ten oder nie gezeigte grafis­che Blät­ter von 40 Kün­st­lerin­nen und Kün­stlern, darunter so berühmte Namen wie Édouard Manet, Auguste Renoir, Mary Cas­satt, James Whistler und Less­er Ury. Let­zter­er wird zusam­men mit Anders Zorn und Franz Skarbina schließlich auch noch zum Impres­sion­is­mus gezählt, zeitlich gewagt, aber von der Gestal­tung und Wirkung dur­chaus berechtigt.

Der andere Impres­sion­is­mus – Inter­na­tionale Druck­graphik von Manet bis Whistler, 208 Seit­en, 147 Farb- und 3 sw-Abbil­dun­gen, Michael Imhof Ver­lag, Peters­berg 2024, ISBN: 978–3‑7319–1433‑4 , 29,95 € .

und Julia Kratzer

Deutschland für Buchverliebte

Eine Reise zu den schön­sten Buch­hand­lun­gen, Bücher­cafés, Anti­quar­i­at­en und mehr

Dieses “mehr”, das der Unter­ti­tel des Buch­es ver­spricht, sind Buch- und Schrift­museen, Bib­lio­theken, Bücher­flohmärk­te und sog­ar Buch­ho­tels. Dieses anre­gende Buch ist eine Art Reise­führer für Bücher­fre­unde, gegliedert nach dem Osten und Nor­den, dem West­en und Süden Deutsch­lands. Jed­er Bücher­fre­und wird darin reizvolle Anre­gun­gen, gar völ­lig über­raschende Ent­deck­un­gen machen. Vor jed­er Reise inner­halb Deutsch­lands emp­fiehlt es sich deshalb, in dieses Buch zu schauen. Es ist auch han­dlich genug, um es auf die Reise mitzunehmen. Sehr schöne Farb­fo­tos ver­führen zum Besuch dieser Bücherorte. Sehr hil­fre­ich wären allerd­ings Adres­sangaben und Infor­ma­tio­nen über die jew­eili­gen Zugangsmöglichkeit­en gewe­sen. So muss doch wieder das Inter­net und kein Buch zu Rate gezo­gen wer­den. Den­noch: ein sehr empfehlenswertes Buch.

Ganz Wald draußen

Die Autoren dieses sehr anre­gend im per­sön­lichen Stil geschriebe­nen Aus­flugs­führer ent­deck­en seit 2018 unter dem Insta­gram-Namen @rediscoverbrandenburg Bran­den­burg gemein­sam. Das jet­zt vorgelegte Buch kon­den­siert diese Erfahrun­gen. Es ist voller Ein­drücke, Erleb­nisse und Anre­gun­gen. Bestechende Farb­fo­tos, ein anre­gen­des Lay­out, hil­fre­iche Ortsin­fos und Karten machen diese Neuer­schei­n­ung zum besten aktuellen Bran­den­burg Aus­flugs­führer. Es ist nach den Jahreszeit­en gegliedert: Früh­ling, Som­mer, Herb­st und Win­ter, für alle Jahreszeit­en gibt dieser Führer lustvolle Anre­gun­gen, von Mikroaben­teuern bis zur Mehrtages­tour: „Ganz Wald draußen“ bietet 28 Aus­flüge nach Bran­den­burg und an den Berlin­er Stad­trand zu magis­chen Orten abseits der bekan­nten Wege. Schon jet­zt freut man sich auf einen bald erscheinen­den Nach­fol­ge­band.

Jas­min Mühlbach, Sil­vio Olme­do-Paasch, Loïc Olme­do: Ganz Wald draußen, zahlre­iche Farbab­bil­dun­gen, Ammi­an Ver­lag, Berlin 2024, 232 Seit­en, 20 €, ISBN: 978–3‑948052–68‑3

All die gestohlenen Erinnerungen

Gaelle Nohant

Dieser tief bewe­gende Roman geht auf „die tat­säch­liche Geschichte der Arolsen Archives“ (Danksa­gung S. 427) und Gespräche der Autorin mit zahlre­ichen Nach­fahren von Opfern der NS-Herrschaft zurück. Das auch als Inter­na­tion­al Trac­ing Ser­vice (ITS) bekan­nte Archiv in Bad Arolsen, ein­er Stadt die von einem Fürsten geprägt war, der als SS-Gen­er­al zum Mit­täter im NS-Sys­tem wurde. Die Doku­menten­samm­lung in Arolsen wurde von den Alli­ierten gegrün­det, kam unter die Träger­schaft des Inter­na­tionalen Roten Kreuzes und wurde erst 2012 unter deutsch­er Träger­schaft geöffnet. Sie ist mit Hin­weisen zu rund 17,5 Mil­lio­nen Men­schen die umfassend­ste Samm­lung zu den ver­schiede­nen Opfer­grup­pen des NS-Regimes und gehört seit Juni 2013 zum UNESCO-Welt­doku­mentenerbe. Der Roman ver­mit­telt das erschüt­ternde Schick­sal aus­gewählter Opfer­grup­pen, informiert auch über weniger bekan­nte Ver­brechen der NS-Täter. So die Ver­schlep­pung von 200.000 Kindern aus Osteu­ropa zur Zwangsadop­tion und Zwangsar­beit. Die Schreck­en des KZ Tre­blin­ka, der Auf­s­tand dort und die Ver­nich­tung aller Spuren, und des Frauenkonzen­tra­tionslagers Ravens­brück, die ärztlichen Folter­ex­per­i­mente dort, selb­st die Verge­wal­ti­gun­gen beim Ein­tr­e­f­fen der rus­sis­chen Trup­pen dort, sind The­ma dieses her­aus­ra­gen­den Romans, der in Frankre­ich mit einem der renom­miertesten Lit­er­atur­preise aus­geze­ich­net wurde.

Gaelle Nohant: All die gestohle­nen Erin­nerun­gen, 432 Seit­en, Piper Ver­lag, München 2024, ISBN: ‚24 €

Zeit- und Exilgeschichte

Das Schick­sal der Geschwis­ter Old­en

Diese faszinierende Biogra­phie der Geschwis­ter Old­en ste­ht für zahlre­iche andere Schick­sale von bedeu­ten­den Intellek­tuellen, die von der NS-Herrschaft in ein immer neu bedro­ht­es Exilleben ver­trieben wur­den. „Die in ihren per­sön­lichen und poli­tis­chen Anschau­un­gen eng, wenn auch wider­sprüch­lich zueinan­der ste­hen­den Geschwis­ter repräsen­tieren auf außeror­dentliche Weise die europäis­che und amerikanis­che Zeit- und Exilgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhun­derts.“ (S. 7) So beschreibt der Autor im Vor­wort sein Buch tre­f­fend. Grund­lage dieses Werks waren umfan­gre­iche Archivrecherchen. Biographis­ches verbindet sich mit oft nur wenig bekan­nten zeit­geschichtlichen Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen. So wer­den die Kolo­nialver­brechen in Afri­ka und Südameri­ka genau­so beschrieben wie die zahlre­ichen Ent­führun­gen und Auf­tragsmorde der Gestapo im Aus­land (u.a. in der Schweiz und Lon­don 1935). Auch eine inter­es­sante zeit­geschichtliche Facette stellt das Ver­hält­nis Mus­soli­n­is zu Stal­in dar, schon 1933 kam es zu einem Fre­und­schaftsabkom­men zwis­chen den bei­den Dik­ta­toren. Die ital­ienis­chen Faschis­ten bom­bardierten Spanien im Bürg­erkrieg schon vor Guer­ni­ca 1937. Auch ver­mit­telt der Autor bish­er wenig Bekan­ntes zum Wirken des US-Amerikan­ers Var­i­an Fry, dem es unter ständi­ger Bedro­hung gelang, 3000 hochge­fährdete Intellek­tuelle vor dem tödlichen Zugriff der Gestapo und der Vichy-Polizei in Frankre­ich zu ret­ten.

Die Old­en Geschwis­ter kom­men aus ein­er gut­si­tu­ierten und weit verzweigten jüdis­chen Fam­i­lie. Bekan­nt waren sie mit zahlre­ichen Promi­nen­ten aus Kul­tur, Poli­tik und Pub­lizis­tik. Als promi­nente Hit­lergeg­n­er waren die drei Geschwis­ter Old­en gezwun­gen, sofort nach dem Mach­tantritt der Nation­al­sozial­is­ten ins Exil zu gehen.
Balder Old­en (1882–1949), vor 1933 viel­ge­le­sen­er Schrift­steller, ist in den Jahren des Exils in der Tsche­choslowakei, Frankre­ich, Argen­tinien und Uruguay mit fast allen bedeu­ten­den Emi­granten in Europa und Ameri­ka ver­bun­den.
Sein jün­ger­er Brud­er Rudolf Old­en (1885–1940), als freisin­niger Jour­nal­ist und Jurist ein entsch­ieden­er Geg­n­er des aufk­om­menden NS, hat 1931 die Vertei­di­gung von Carl von Ossi­et­zky über­nom­men. Im britis­chen Exil ver­fasst er scharf­sin­nige Analy­sen zur inter­na­tionalen Poli­tik und wid­met sich zahllosen Ret­tungsak­tio­nen von poli­tisch Ver­fol­gten. Er kommt ums Leben, als das Schiff, das ihn nach Kana­da brin­gen sollte, von einem deutschen U‑Boot versenkt wird.

Poeschel, Thomas: Boheme, Revolte und Exil — Die Odyssee der Geschwis­ter Old­en, 382 S., 42 z.T. farb. Abb., geb., Wall­stein Ver­lag, Göt­tin­gen 2024, ISBN 978–3‑8353–5624‑5, 25 €

So wenig Buchstaben und so viel Welt

Hugo Loetsch­er

Der in Deutsch­land rel­a­tiv wenig bekan­nte Schweiz­er Autor Hugo Loetsch­er (1929 – 2009) war mit Roma­nen wie ›Abwäss­er‹ und ›Der Immune‹ erfol­gre­ich. Als Jour­nal­ist (er war lange Chefredak­teur der „Welt­woche“) bereiste er regelmäßig Lateinameri­ka, Südostasien und die USA und war als Gast­dozent an inter­na­tionalen Uni­ver­sitäten tätig. Der Titel der vor­liegen­den Reise-Essays und Reporta­gen stammt aus seinem let­zten Buch „War meine Zeit meine Zeit“. Dieses auto­bi­ografis­che Werk war den Her­aus­ge­bern eine wichtige Inspi­ra­tionsquelle. In ihrem infor­ma­tiv­en Nach­wort schreiben sie tre­f­fend: „Wie kaum ein ander­er deutschsprachiger Schrift­steller sein­er Gen­er­a­tion hat­te sich Loetsch­er das Tal­ent erar­beit­et, die Essenz ein­er Stadt oder Region in einem Text zu erfassen, der zugle­ich tief­sin­nig und unter­halt­sam zu lesen war.“ (S. 462) Beste Beispiele dafür sind seine Berichte aus Kolumien/Cartagena, den Azoren und Puer­to Rico.

Hugo Loetsch­er: So wenig Buch­staben und so viel Welt, Reise-Essays und Reporta­gen, Broschur, 479 Seit­en, Dio­genes Ver­lag, Zürich Mai 2024, ISBN 978–3‑257–07276‑1, 29.00 €

Deutschland — Eine romantische Reise

Dieser her­aus­ra­gende Bild­band zeich­net sich vor allem durch seine ein­drucksvollen Farb­fo­tografien aus: ein Bild ist schön­er als das andere, viele haben die Anmu­tung von Gemälden Cas­par David Friedrichs. Obwohl deshalb der Fotograf Yan­nick Scherthan völ­lig zurecht als Erstau­tor im Titel genan­nt wird, sind auch die Textbeiträge Brit­ta Mentzels ein wichtiger Teil des Ban­des, für einen Bild­band umfan­gre­ich zeigen sie auf wie deutsche Geis­tes­größen durch Land­schaften zu ihren Meis­ter­w­erken inspiri­ert wur­den. Ein Lit­er­aturverze­ich­nis belegt dies eben­so wie auch ein sehr per­sön­lich­es Mak­ing-of des Fotografen „Wenn Poe­sie und Real­ität ver­schmelzen“ und gute Karten tra­gen zur hohen Qual­ität dieses sehr empfehlenswerten Band bei.

Scherthan, Yannick/Mentzel, Brit­ta: “Deutsch­land — Eine roman­tis­che Reise durch unsere schön­sten Land­schaften, 192 Seit­en, ca. 200 Farb­fo­tografien, Fred­erk­ing &Thaler/Bruckmann Ver­lag, München 2024, ISBN: 9783954163991, 45 €

Die postkoloniale Stadt — Friedrichshain-Kreuzberg

Dieses noch als Neuer­schei­n­ung zu wer­tende Buch des Berlin­er Ver­lags mit dem orig­inellen Namen und der inter­es­san­ten Ver­lags­geschichte (siehe https://www.verbrecherverlag.de/verlagsgeschichte) ist ein Beitrag zur Berlin­er Stadt­geschichte. Seit 2022 haben sich die Berlin­er Regional­museen dem The­ma Kolo­nial­is­mus zuge­wandt – mit ganz unter­schiedlichen Ergeb­nis­sen: mal wer­den unbe­friedi­gend kur­sorisch kolo­niale Aspek­te der Indus­triegeschichte, mal aktuelle Kun­st schwarz­er Men­schen vorgestellt (Reinick­endorf). In Friedrichshain-Kreuzberg” hat die The­ma­tisierung allerd­ings Sub­stanz und ist mit dem vor­liegen­dem Buch auf umfassender Weise doku­men­tiert. Es geht um Fra­gen wie „Wie hat sich der Impe­ri­al­is­mus des Deutschen Reich­es mit seinem Aus­greifen nach Übersee, aber auch nach Ost- oder Südos­teu­ropa im städtis­chen Leben niedergeschla­gen? Was davon ist geblieben?“
Dem wird infor­ma­tiv nachge­gan­gen anhand der Beschrei­bung von Baut­en, Verkehrsknoten­punk­ten, Organ­i­sa­tio­nen, Fir­men, Kul­turein­rich­tun­gen und der Lebens­geschichte von Akteuren, die mit dem impe­ri­alen Pro­jekt in Verbindung standen, aber auch von schwarzen Men­schen, die in Berlin gelebt haben.

Biographie des Chemikers Arthur Eichengrün

Biogra­phie-Recherche Biogra­phie ist Ergeb­nis ein­er aufwändi­gen Recherche. Nachkom­men Eichen­grüns in Deutsch­land, Spanien, Namib­ia, Hol­land und Israel wur­den befragt und die Entwick­lung der Chemie in der Wis­senschafts- und Indus­triegeschichte nachgeze­ich­net (von der Entwick­lung von Far­ben und Film­ma­te­r­i­al aus Teer zur Arzneimit­tel­her­stel­lung bis zur der vielfälti­gen Kun­st­stoff­pro­duk­tion). In drei Jahrzehn­ten Recherche rekon­stru­iert der Autor Chaussy Eichen­grüns Biografie und ent­deckt einen der bedeu­tend­sten Chemik­er und Erfind­er der Kaiserzeit und der Weimar­er Repub­lik wieder: Eichen­grün ist Forsch­er, Erfind­er und Unternehmer in Per­son­alu­nion. Er syn­thetisiert Kokain, erfind­et das weltweit meist­genutzte Antigon­or­rhoicum Pro­tar­gol. Und wir ver­danken ihm die Entwick­lung des erfol­gre­ich­sten Medika­ments der Phar­maziegeschichte, dem Aspirin. Er erfind­et den unbrennbaren Kinofilm, biegsame Schallplat­ten, rev­o­lu­tion­iert mit seinem Cel­lon-Spannlack den Bau der stoff­be­span­nten Flugzeuge und Zep­pe­line.

Ab 1933 gel­ten all seine Ver­di­en­ste nichts mehr.  Er ver­liert seine Fir­ma, allen Besitz und wird aus der Geschichte her­aus­geschrieben. Plöt­zlich ist der assim­i­lierte Patri­ot Eichen­grün für Anti­semiten von Her­mann Göring, mit dem er in Berlin sieben Jahre unter einem Dach lebt, bis zum kle­in­sten Räd­chen des Nazi-Appa­rates nur noch eines: Jude. Er wird im Mai 1944 ins KZ There­sien­stadt deportiert, dort allerd­ings in einen Bere­ich unterge­bracht, in dem 200 von 28.000 Häftlin­gen ein eigenes Zim­mer zugewiesen wurde. Eichen­grün über­lebt das KZ. An sein früheres Leben und seine Erfolge kann er nicht mehr anknüpfen. Chaussy nimmt den Leser mit auf seine Recherchen und ver­wen­det dafür eine reizvolle Form: „…habe ich mir die Frei­heit genom­men, Eichen­grün in von mir imag­inierten Schall­folien­botschaften zu Wort kom­men zu lassen und mir als Autor in die Parade zu fahren – fik­tionales Mit­tel zur Infragestel­lung der Per­spek­tive des Autors.“ (S. 339).

Chaussy, Ulrich: Arthur Eichen­grün – Der Mann, der alles erfind­en kon­nte, nur nicht sich selb­st, 368 Seit­en, gebun­den mit Schutzum­schlag, Herder Ver­lag, Freiburg/Basel/Wien, 2023, 26 €, ISBN: 978–3‑451–39216‑0

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