Um zu lieben, braucht es die Vorstel­lungskraft, dass das, was einem im All­t­ag begeg­net nicht alles sein kann. Das ist vielle­icht nichts, worin sich die Liebe von anderen Werten unter­schei­det. Auch Schön­heit, Stärke, Mut und Weisheit sind Werte, die den Sta­tus quo über­steigen. Ger­ade in der Gebrochen­heit unser­er Exis­tenz erleben wir die Sehn­sucht nach diesen Werten. Doch nur die Liebe ver­langt, dass wir unser Ich radikal preis­geben. Diese Erfahrung macht Bas­t­ian Balthasar Bux in Michael Endes Roman „Die unendliche Geschichte“.

In gewiss­er Weise ist „Die unendliche Geschichte“ ein Entwick­lungsro­man. Der Pro­tag­o­nist lernt näm­lich an einem Punkt tief­ster Verzwei­flung, sich selb­st neu zu denken und sich so eine Iden­tität zu schaf­fen. Anders als im klas­sis­chen Entwick­lungsro­man zieht Bas­t­ian jedoch nicht hin­aus in die Welt, son­dern hinein in sein Inner­stes. Denn der Ausweg aus sein­er Mis­ere liegt in seinem eige­nen Selb­stver­ständ­nis. Ist er daran gebun­den, feige zu sein? Oder birgt seine Vorstel­lungskraft nicht eben­so die Möglichkeit, ein mutiger Held zu sein? Man kön­nte annehmen, dass es nicht viel bedeutet, sich nur als mutig vorzustellen. Tat­säch­lich ist aber ger­ade diese Bere­itschaft, die Sehn­sucht und das Wün­schen zuzu­lassen, die Grund­lage aller Möglichkeit­en und die Voraus­set­zung des Han­delns über­haupt: Nur wer sich als mutig vorstellt, hat die Möglichkeit mutig zu sein. Wer es sich in sein­er Feigheit bequem macht, erfind­et wom­öglich tausend Ausre­den, weshalb das nicht anders gin­ge; doch er wird niemals über sich hin­auswach­sen. In dem Maß wie jemand auf seine fak­tis­che Exis­tenz beschränkt bleibt, wird er niemals eine Iden­tität entwick­eln. Die Iden­tität, die sich Bas­t­ian in Endes Roman zu eigen macht, ist das, was er sein möchte. Doch er lernt, dass er nicht er selb­st sein kann, wenn er nicht auch seine Ver­gan­gen­heit annimmt – wenn auch nur, um in der Zukun­ft ein ander­er zu sein.

Für Michael Ende ist jedoch an diesem Punkt die Iden­titätssuche des Pro­tag­o­nis­ten nicht abgeschlossen. Bas­t­ian stellt sich am Ende des Romans der fak­tis­chen Wirk­lichkeit, als jemand, der bere­it ist, sein Ich preiszugeben – nicht in der Kapit­u­la­tion gegenüber der Welt des Fak­tis­chen, son­dern in der Sehn­sucht auf den höch­sten Wert: die Liebe. Damit hat er seinen Mut real ein­gelöst. Zugle­ich war seine Iden­titätssuche notwendig, denn nur wer ein Ich hat, das er preis­geben kann, ist zur Liebe fähig.

Zur Zeit sein­er Pub­lika­tion wurde Endes Roman als unpoli­tisch und eskapis­tisch kri­tisiert. Im Gegen­satz dazu denke ich, dass „Die unendliche Geschichte“ äußerst poli­tisch ist. Ende zeigt, dass die Voraus­set­zung allen (poli­tis­chen) Han­delns die Fähigkeit und der Mut zur Fan­tasie ist.

Michael Ende: Die unendliche Geschichte, Thiene­mann Ver­lag 2019, ISBN: 978–3‑522–20260‑2; 20 Euro.