Der Roman “Der große Meaulnes” von Henri Alain-Fournier erzählt von der Sehnsucht nach einem “verlorenen Land”, in dem sich erfüllen würde, was der Titelheld, Augustin Meaulnes, am meisten begehrt.
Erzählt wird die Geschichte von Meaulnes’ bestem Freund, dem anfangs 15-jährigen François Seurel. Gemeinsam gehen sie auf eine von Seurels Eltern geleitete Schule in der fiktiven Kleinstadt Sainte-Agathe, in der zentralfranzösischen Sologne. Meaulnes kam neu in die Klasse, gibt jedoch schnell den Ton an und wird von allen nur “der große Meaulnes” genannt. Die von Wäldern und Seen geprägte Landschaft der Sologne nährt die Abenteuerlust der Jugendlichen. Die Klassenkameraden von Seurel und Meaulnes touren mit dem Fahrrad über die Landstraße oder schleichen sich hinaus in den Wald, um Grünspechtnester auszuheben. Doch keines dieser Abenteuer kommt an das heran, das der große Meaulnes erlebt hat:
Meaulnes’ Abenteuer ereignete sich in jenem “verlorenen Land”, das fortan zum Kristallisationspunkt all seiner Wünsche und Bestrebungen wird. Eines Nachts fand er sich nach einem misslungenen Streich an einem namenlosen Schloss wieder, ohne zu wissen, wie er dorthin gelangt war. Ehe er sich’s versah, war er Gast eines wundersamen Kostümfestes. Sogar ein Kostüm lag für ihn bereit. Es war ein Ort der Eintracht und der Abgeschiedenheit, an dem Fremde sich als Freunde begegneten und die Welt um sich herum vergaßen: “Unter diesen Tischgenossen war niemand, in dessen Gegenwart sich Meaulnes nicht wohl gefühlt und dem er nicht vertraut hätte.” (82) Die Begegnung mit einem schönen Mädchen namens Yvonne de Galais, der Tochter des Schlossherrn, wird für Meaulnes zu einer Offenbarung des Glücks. Obwohl dieses Glück zum Greifen nahe schien, entzieht es sich ihm doch und es bleibt nur eine Erinnerung: “Mit welcher Erregung dachte Meaulnes später an die Minute, in der am Ufer des Teiches das seitdem verloren gegangene Gesicht des Mädchens dem seinen so nahe gewesen war!” (93f.)
Abrupt ist das Fest zu Ende und Meaulnes zurück in Sainte-Agathe. Zwischen Wehmut nach dem Verlorenen und Sehnsucht nach Erfüllung versucht Meaulnes das verwunschene Schloss und die junge Schlossherrin wiederzufinden. Doch das “verlorene Land” ist auf keiner Karte eingezeichnet. Es ist schließlich sein Schulfreund Seurel, der Meaulnes eine Möglichkeit eröffnet, an die er nicht mehr zu glauben gewagt hat. Doch kann das Glück, das einmal möglich zu sein schien, Wirklichkeit werden, nachdem es bereits verloren war? Meaulnes fühlt die Distanz, die ihn von seiner Vergangenheit trennt: “Aber inzwischen bin ich überzeugt, dass ich, als ich das namenlose Schloss entdeckte, in einem Zustand solcher Vollkommenheit und Reinheit war, wie ich ihn nie mehr erreichen werde.” (222) Klar ist, dass das Abenteuer, in das Meaulnes hineingeraten war, längst nicht zu Ende ist. Das “verlorene Land” wartet darauf, in der Zukunft wiederentdeckt zu werden.
Henri Alain-Fournier: Der große Meaulnes, Thiele Verlag 2014, ISBN: 978–3‑85179–317‑8.
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