Ein Interview mit dem Schriftsteller Volker Kaminski über seinen Roman “Der Gestrandete”

KUM: Ein Grund­mo­tiv des Romans “Der Ges­tran­dete” kön­nte man mit dem Slo­gan “life imi­tates art” para­phrasieren. Die Kun­st — ob in Form eines The­ater­stücks oder in Form ein­er Zeich­nung — greift im Roman auf das Leben der Pro­tag­o­nis­ten über. So ver­sucht der Ich-Erzäh­ler Sascha Fehrmann über den Roman von E. T. A. Hoff­mann (“Die Elix­iere des Teufels”), den Geheimnis­sen seines früheren Schulka­m­er­aden Frank Kali­na auf die Spur zu kom­men. Hast Du damit eine falsche Fährte gelegt?

Volk­er Kamin­s­ki: Kun­st kann das Leben immer bee­in­flussen, manch­mal auf fördernde, begeis­ternde Weise, sie kann ganze Biografien verän­dern, Erweck­ungser­leb­nisse ver­schaf­fen, sie kann aber auch neg­a­tive Fol­gen zeit­i­gen (das berühmteste Beispiel aus der Lit­er­aturgeschichte ist wohl Goethes „Werther“, der zu sein­er Zeit nicht nur eine Klei­der­mode aus­löste, son­dern sog­ar einige unglück­lich Ver­liebte zur Nachah­mung des Suizids ver­leit­ete). An eine falsche Fährte habe ich nicht gedacht, im Gegen­teil, Sascha benutzt Hoff­manns Roman eher zur Spuren­suche und befragt Frank mit Hil­fe des Roman­hin­ter­grunds, als er merkt, wie wichtig das Buch für diesen ist. Es ist ein Spiel mit Motiv­en und Möglichkeit­en, die der düstere Hoff­mann-Roman vorgibt, da habe ich auch mein­er alten Liebe zu Hoff­mann und der Roman­tik Raum gegeben.

Willkommen bei den Fehrmanns: Die Lebenswelt der Protagonisten

KUM: Sascha reflek­tiert ein ums andere Mal seine Lage. Nach­dem er zuerst sein­er Frau spon­tan von Franks Ver­gan­gen­heit erzählt, entschließt er sich dann, über das, was er von und über Frank erfährt, Stillschweigen zu bewahren. Das erscheint recht fahrläs­sig, wenn man bedenkt, welch schw­er­er Ver­dacht auf Frank liegt. Was sagt das über Sascha aus? Liegt darin das Unberechen­bare und Faszinierende des Pro­tag­o­nis­ten?

Kamin­s­ki: Es ist tat­säch­lich ein gefährlich­es Spiel, das Sascha treibt, er ringt ja auch andauernd mit sich, ob es richtig ist und ob er weit­er schweigen und Franks Nähe zu sein­er Frau und der The­ater­gruppe zulassen darf. Ander­er­seits ver­lockt ihn die „böse“ Energie des alten Fre­unds, er ist fasziniert von dessen ver­meintlich authen­tis­cheren, exis­ten­zielleren Lebensweise. Sascha muss sich ständig an ihm abar­beit­en, seine „Ruh ist hin“, kön­nte man mit Goethe sagen, sein gewohntes Leben gerät in gefährlich­es Fahrwass­er. Aber das ist für ihn und seine Frau natür­lich ander­er­seits auch span­nend und her­aus­fordernd.

KUM: Auf der anderen Seite ver­rät Saschas Wahrnehmung viel über seine Gefühlslage. Das kommt beson­ders gut in den Schilderun­gen von seinem Garten zum Aus­druck. Auf Seite 223 heißt es zum Beispiel: „Der Garten zeigte wieder sein Som­mer­gesicht, das fortschre­i­t­end fre­undlich­er zu mir herüber­sah.“ Dieser Ein­druck ste­ht in schar­fem Kon­trast zu anderen Pas­sagen, wo die Urwüch­sigkeit des Gartens im Vorder­grund ste­ht und als Bedro­hung emp­fun­den wird. Geben die Wahrnehmungs­beschrei­bun­gen ein authen­tis­cheres Bild von Saschas Innen­leben wieder als seine Gedanken?

Kamin­s­ki: Sascha der Garten­fre­und, der ewig sich auf der Liege Aus­ruhende. Warum ist er eigentlich so erhol­ungs­bedürftig? Seine merk­würdi­ge Ver­bun­den­heit mit der (Garten-)Natur war für mich von Anfang an ein Motiv im Roman. Die Lebenswelt der Fehrmanns, ihr Wohl­stand, das geerbte Haus und der „ver­wun­sch­ene“ Garten dahin­ter, das ist für Sascha nicht unprob­lema­tisch, er ist nicht eins mit dieser Rolle als behüteter Bürg­er. Da rebel­liert etwas in ihm, das nimmt er dann manch­mal als Bedro­hung von außen wahr. Das Gesicht des Gartens wan­delt sich, je nach­dem wie sich seine innere Entwick­lung fort­be­wegt. Diese irra­tionalen Gefüh­le sagen tat­säch­lich viel, vielle­icht mehr über seinen Zus­tand aus als seine ratio­nalen Gedanken.

KUM: Auch die Dialoge charak­ter­isieren die Pro­tag­o­nis­ten natür­lich in ganz bes­timmter Weise. Im Roman ist der Dia­log zudem ein wichtiges Mit­tel zur Wahrheits­find­ung. Frank räumt ja expliz­it ein, gegenüber Sascha einen Drang zur Beichte zu ver­spüren. Was er geste­ht, ste­ht für Sascha allerd­ings immer unter dem Vor­be­halt der Lüge. Kann man wörtlich­er Rede im Roman trauen? Inwiefern hil­ft sie dabei, die Charak­tere zu skizzieren?

Kamin­s­ki: Ich bin ein großer Fan von Roman­di­alo­gen, sie sind für mich ein ide­ales verklein­ertes Spielfeld zur Aus­tra­gung der im Roman behan­del­ten Kon­flik­te. Indem die Protagonist*innen reden, stre­it­en, sich gegen­seit­ig belü­gen, sich her­aus­fordern, unter Druck set­zen etc., treiben sie die Hand­lung voran und lassen den Span­nungs­bo­gen sich weit­er biegen. Lügen gehören naturgemäß zum Dia­log, und die Beichte ist nahezu die älteste Form des Wech­selge­sprächs. Auch in Hoff­manns Roman wird des Öfteren gebe­ichtet (es ist ja auch ein Mönchs-Roman) und sich in Lügen geflüchtet. Doch es gibt auch immer den Drang nach Wahrheit und den unbändi­gen Wun­sch sie ans Licht zu brin­gen.

Dichtung und Wahrheit

KUM: Du bist in Karl­sruhe geboren und hast Philoso­phie studiert. Neben detail­lierten Stadtschilderun­gen ent­deckt man im Text inter­es­sante philosophis­che Gedanken. Der Dia­log set­zt einen Gesprächspart­ner voraus. Der Blick des anderen ist, wenn man Sartre fol­gen möchte, ein Spiegel der eige­nen Seele. An promi­nen­ter Stelle wird das Motiv des Spiegels im Roman aufge­grif­f­en, näm­lich auf der Bühne während der Pre­miere des The­ater­stücks. Die Beziehung zwis­chen Sascha und Frank kann man im Sinne Sartres ver­ste­hen: Am Ende des Romans artikuliert Frank beispiel­sweise, worin die geistige Ver­wandtschaft zwis­chen ihm und Sascha beste­ht. Etwas, das sich Sascha zuvor nicht einge­s­tanden hat. Hast Du bewusst philosophis­che Gedanken im Text ver­ar­beit­et?

Kamin­s­ki: Ich wün­sche mir immer, dass die philosophis­chen Ken­nt­nisse aus meinem Studi­um ihren (unauf­dringlichen) Platz beim Schreiben find­en. Philoso­phie – wenn man sie ernst nimmt – lässt sich ja nie aufgeben oder als erledigt betra­cht­en, sie stellt die Fra­gen, die jed­er Men­sch hat. Und der Spiegel – etwas über­spitzt gesagt – ist Träger der Wahrheit, und wer etwas Schlimmes getan hat und wen das Gewis­sen peinigt, der schaut bekan­ntlich nicht gern hinein. Das Spiegelver­hält­nis zwis­chen Sascha und Frank ist im Roman so eine Art These, die hin­ter­fragt und zunehmend ver­schärft geprüft wird. Wie nahe lässt Sascha den gefährlichen Fre­und an sich her­an, wo zieht er die Not­bremse? Span­nende Fra­gen, die die Leser*innen, wie ich hoffe, auch ans Buch fes­seln.

Nur eine Illusion von Freiheit?

KUM: Auch der Gedanke der Frei­heit, der für den Exis­ten­tial­is­mus entschei­dend ist, wird enthu­si­astisch von Frank auf ein­er Par­ty gepriesen. Tat­säch­lich sind jedoch für Frank weniger seine autonomen Hand­lun­gen, son­dern eher seine affek­tiv­en charak­ter­is­tisch. Eben­so kann man von Sascha sagen, dass er einen merk­würdi­gen Umgang mit sein­er Entschei­dungs­frei­heit hat. Auf Seite 206 heißt es: „Es war meine Entschei­dung, ob und wann ich ein­greifen würde. Das war naiv.“ Das ist ein inter­es­san­ter Satz, weil er dop­peldeutig ist: War es naiv zu glauben, eine Entschei­dungs­frei­heit zu haben, oder war es naiv, seine Ver­ant­wor­tung, eine Entschei­dung zu tre­f­fen, hin­auszuzögern? Magst Du dazu etwas sagen?

Kamin­s­ki: Sascha glaubt lange, das Heft in der Hand zu hal­ten, er redet sich ein, jed­erzeit ein­greifen zu kön­nen, wenn es zu gefährlich wird, und alles zu stop­pen, wenn er es nicht mehr ver­ant­worten kann. So ist es ja oft im Leben, oder? Wir unternehmen etwas, beschließen, pla­nen, gehen einen nicht unge­fährlichen Weg in eine bes­timmte Rich­tung – wenn es zu heikel wird, kön­nen wir ja umkehren, denken wir. Und ganz ohne Risiko geht es im Leben eben sel­ten (was wir ja auch ger­ade „live“ erleben bezüglich der Abwä­gung zwis­chen Leben‑, Arbeiten‑, Reisen-Wollen und gesund­heitlichen Risiken und Gefahren). Sind wir naiv, wenn wir glauben, dass wir in unserem Han­deln frei sind? Manch­mal, wenn etwas Schlimmes ein­tritt, dann kommt es uns vielle­icht so vor. Dann müssen wir ein­se­hen, dass wir ver­let­zlich sind, schwach, angreif­bar und unfähig immer alle Risiken zu ken­nen. Ein Satz wie der von dir zitierte ist aber neben­bei auch ein willkommen­er „Cliffhang­er“, bestens geeignet, um am Kapite­lende den Felsvor­sprung zu zeigen, an dem der Pro­tag­o­nist „baumelt“.

Verschiedene Lebenswege

KUM: Das unbe­d­ingte Ver­trauen, mit dem sich Sascha und Frank von Anfang an im Roman begeg­nen, erin­nert an die Beziehung zwis­chen Brüdern. Selb­st der Ver­dacht, der auf Frank lastet, bringt Sascha nicht von der Zuver­sicht ab, dass dieser seine Angele­gen­heit­en ins Reine brin­gen wird. Im Roman wird auf ein gemein­sames ursprünglich­es Ver­ständ­nis für das Unheim­liche rekur­ri­ert. Die späteren Lebensen­twürfe der bei­den gehen ja auseinan­der und Sascha hat sich ein ruhiges Leben geschaf­fen. Welche Rolle spielt die gemein­same Schulzeit?

Kamin­s­ki: Die gemein­same Schulzeit wird im Roman kaum the­ma­tisiert – dazu ist wahrschein­lich die Gegen­wart durch das Ein­drin­gen Franks ins beschauliche Leben zu sehr aufgewühlt und beein­trächtigt. Es ist eher so, dass die sehr ver­schiede­nen Lebensen­twürfe der bei­den es – zumin­d­est für Sascha – schw­er vorstell­bar machen, dass sie sich über­haupt jemals nahe ges­tanden haben. Wie ver­schieden haben sie doch gelebt! Und es war nicht anzunehmen, dass sie sich je wieder begeg­nen, geschweige denn annäh­ern wür­den. Aber das Leben kann voller Über­raschun­gen sein.

Schreiben zwischen Theorie und Praxis

KUM: Inter­es­sant für alle, die Deine Schreib­sem­inare an der Alice-Salomon-Hochschule nicht besuchen, sind auf jeden Fall auch die im Roman ver­streuten poe­t­ol­o­gis­chen Reflex­io­nen – zum Beispiel zum The­ma des Bösen und der Span­nung. Reflek­tierst Du bere­its während des Schreibens über poe­t­ol­o­gis­che Aspek­te?

Kamin­s­ki: Es ist m. E. ein immenser Unter­schied zwis­chen dem bel­letris­tis­chen Schreiben und der the­o­retis­chen Reflex­ion darüber. So habe ich z. B. im Lauf meines Ger­man­is­tik­studi­ums, als ich bere­its regelmäßig Geschicht­en schrieb oder es zumin­d­est ver­suchte, immer dann große Schreib­schwierigkeit­en bekom­men, wenn das The­o­retis­che zu schw­er, kom­plex und sozusagen „über­grif­fig“ wurde. Schreiben set­zt eine große Unbe­fan­gen­heit und Zuver­sicht voraus, das poe­t­ol­o­gis­che Wis­sen kann da wirk­lich zum Hin­der­nis wer­den und schlimm­sten­falls eine Block­ade aus­lösen. Trotz­dem gehören die Bere­iche zusam­men, und während ich eine Geschichte ent­falte, stellen sich mir auch Form­fra­gen oder ich reflek­tiere über das The­ma und seine Imp­lika­tio­nen und möglichen Verknüp­fun­gen zu anderen The­men etc. Mich beschäftigt am stärk­sten der Bau, die Kon­struk­tion des Ganzen, weil ich den nicht vor dem Schreiben fes­tlege. Eigentlich weiß ich zunächst nur, was der Aus­gangskon­flikt, das berühmte aus­lösende Ereig­nis ist. Darauf baue ich peu à peu auf. Wenn ich dann selb­st beim Schreiben das Gefühl habe, jet­zt ist es aber über­haupt nicht mehr span­nend oder das ver­ste­he ich jet­zt selb­st nicht, das ist schreck­lich weit herge­holt, dann muss ich ein­greifen und über­legen: Wo ist der Fehler? Wenn mir dann die Musen­göt­tin einen guten Ein­fall schenkt, bin ich ganz das glück­liche Schreibkind und spiele unbeein­trächtigt von jed­er Poe­t­olo­gie stun­den­lang weit­er…

KUM: Ich danke Dir für das Inter­view.

Volk­er Kamin­s­ki, geboren 1958 in Karl­sruhe, hat Ger­man­is­tik und Philoso­phie studiert, lebt in Berlin. Neben Kurzgeschicht­en, Rezen­sio­nen und Glossen (Berlin­er Zeitung) hat er bish­er sieben Romane veröf­fentlicht, zulet­zt „Gesicht eines Mörders“ (2014), „Rot wie Schnee“ (2016) und „Auf Probe“ (2018). Seit 2014 ist er Lehrbeauf­tragter an der Alice Salomon Hochschule Berlin für das Mod­ul Cre­ative Writ­ing — Roman­werk­statt. Zur Home­page des Autors

Bild­nach­weise: Cover­bild © Info Ver­lag; Porträt © Volk­er Kamin­s­ki