Wie das Mittelalter unsere Städte erfand
Das Buch „Gründerzeit 1200” von Gisela Graichen und Matthias Wemhoff richtet sich an geschichtsinteressierte Leserinnen und Leser, die mehr über die „urbane Revolution” im Hochmittelalter erfahren möchten. Zwischen 1150 und 1250 erlebte das Heilige Römische Reich einen regelrechten Städteboom: Aus weniger als 200 städtischen Siedlungen wurden über 1.200.
Die Autoren zeigen, wie technische Neuerungen, Handel, Recht sowie Klima- und Umweltfaktoren diese Entwicklung prägten und bis heute nachwirken.Es wird der Einfluss kirchlicher und religiöser Entwicklungen hinterfragt, technische und kommerzielle Neuerungen bewertet und die Entwicklung des Rechts am Beispiel des Sachsenspiegels und des Magdeburger Stadtrechts beschrieben.
Besonders eindrucksvoll ist dabei der Blick auf die Wechselwirkung zwischen Klimawandel und Stadtentwicklung. Das sogenannte „Mittelalterliche Klimaoptimum“ brachte wärmere Temperaturen, bessere Ernten und eine wachsende Bevölkerung mit sich – ideale Bedingungen für Städtegründungen. Gleichzeitig verschärften sich jedoch die Umweltprobleme: Holz wurde zur Mangelware und Böden sowie Wälder litten unter Raubbau. Die Städte führten Regelungen wie Bannforste oder Pflanzpflichten ein. Die Strafen für Holzdiebstahl waren drakonisch: „Wer Bäume mit verwertbaren Früchten wie Bucheckern fällte, dem drohte das Handabschlagen“. Oder: “Das Erzbistum Freiburg bestimmte Anfang des 13. Jahrhunderts, wer eine Eiche köpfte, sollte selbst den Kopf verlieren, wer bei ihrer Entrindung zur Gewinnung von Gerbsäure erwischt wurde, bekam die Gedärme aus dem Leib gezogen.”. Somit wird deutlich, dass verfügbare Ressourcen und Nachhaltigkeit bereits im Mittelalter zentrale Fragen waren.
Neben großen Linien – etwa der Hanse als „heimliche Großmacht“ – beleuchtet das Buch auch soziale Aspekte. So konnten Frauen im 13. Jahrhundert in bestimmten Berufen eine Lehre machen, Zünfte gründen oder die Geschäfte ihrer Männer fortführen. Anschauliche Exkurse – von Grönland-Sagen bis zu den gescheiterten Stadtplänen Karls des Großen – machen die Lektüre lebendig und unterhaltsam.Gründerzeit 1200” ist ein spannendes und verständlich geschriebenes Sachbuch für ein breites Publikum – ideal für Geschichtsinteressierte, Lehrende oder alle, die verstehen wollen, wie unsere Städte entstanden sind. Die erfahrene Wissenschaftsjournalistin Graichen und der Archäologe und Museumsdirektor Wemhoff verbinden fundiertes Wissen mit erzählerischem Gespür. So entsteht eine populärwissenschaftliche Darstellung, die weit über trockene Sozialgeschichte hinausgeht und Geschichte lebendig und allgemein verständlich macht.
Gisela Graichen, Matthias Wemhoff: Gründerzeit 1200. Wie das Mittelalter unsere Städte erfand. Propyläen Verlag 2024, 464 Seiten, 29 €, ISBN 978–3‑549–10065‑3