Beeindruckende Biographien aus nächster Nähe

Tobias Engelsing hat eine beeindruckende Biografie seines Vaters Herbert vorgelegt, die spannend zu lesen und umfassend recherchiert am persönlichen Erleben Zeitgeschichte von der Weimarer Republik bis in die Restauration der 50er Jahre spiegelt, eine „anschauliche Nahaufnahme des gewalttätigen 20. Jahrhundert“ (so der Autor im Nachwort, S. 401) vermittelt. Als Jurist und Produzent bei der Tobis Filmkunst GmbH, mit der UFA eine der größten deutschen Filmunternehmen, von den Nazis verstaatlicht, machte Herbert Engelsing Karriere, Stars wie Heinrich George, Gustaf Gründgens und Paula Wessely spielten in seinen Filmen. Doch im Geheimen unterstützte er den konservativen Widerstand und die Gruppe um die „Rote Kapelle“, half Juden und Gefährdeten. »Schutzengelsing« wurde er genannt. Nach dem Krieg galt er wegen seiner Kontakte zur fälschlicherweise als sowjetisch gesteuert bezeichneten „Roten Kapelle“ alliierten Geheimdiensten und ihren deutschen Helfern um ehemalige Gestapo-Funktionären als »Schläfer« und Kommunist. Seine Ehe mit einer als „Halbjüdin“ eingestuften Berlinerin ist daran gescheitert. Sein Sohn und Autor dieser in so vielfältiger Weise deutsche Lebensverhältnisse spiegelnden Biographie erlebte seinen Vater nur als Kleinkind, konnte aber mit vielen Angehörigen und Freunden Informationen sammeln, sich auf zahlreiche Briefe und Dokumente stützen. Er ist Historiker und Museumsdirektor in Konstanz, dem Wohnort seines Vaters nach dem Krieg. Die provinzielle, engstirnige Prägung dieser so schön am Bodensee gelegene Stadt in der Nachkriegszeit ist auch Teil dieser lesenswerten Biographie.

Sie ist in gewisser Weise mit der Biografie „Im Zweifel nach Deutschland“ von Moritz Neumann vergleichbar. Auch hier schildert der Sohn das vom verbrecherischen Rassenwahn der Nazis geprägte Leben seines Vaters. Es ist die Geschichte eines deutschen Juden, der aus seinem Heimatland fliehen muss, in den Kampf gegen Faschisten und Nazis zieht und schließlich doch die Rückkehr nach Deutschland wagt. Breslau nach der ‚Machtergreifung‘ der Nazis: Hans Neumann stammt aus dem klassischen deutsch-jüdischen Bildungsbürgertum, ist aber Sozialdemokrat und Reichsbannermann. Im Jahre 1936 flieht er nach Prag. Dort hört er vom Bürgerkrieg in Spanien und meldet sich als Freiwilliger der Internationalen Brigaden. Er kämpft im Thälmann-Bataillon und wird Zeuge der erbitterten ideologischen Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten, Anarchisten und Sozialdemokraten. Nach Francos Sieg flieht er nach Frankreich und schließt sich der französischen Fremdenlegion an. Kaum ist er mit der Fremdenlegion in Marokko stationiert, holt ihn der Antisemitismus wieder ein. Er wird aus der Legion entlassen und in ein Zwangsarbeitslager überstellt, wo er zwei Jahre Sklavenarbeit beim Bau der Transsahara-Eisenbahn verrichten muss. Erst nachdem sein Lager durch General de Gaulles Truppen befreit wird, kann er als regulärer französischer Soldat seine Feinde bekämpfen. Nach Kriegsende kehrt er nach Deutschland zurück und engagiert sich in Fulda in der jüdischen Gemeinde.

Tobias Engelsind: Kein Mensch, der sich für normale Zeiten eignet – Mein Vater zwischen NS-Film und Widerstand, Propyläen Verlag, Berlin 2022, 448 Seiten, Hardcover, ISBN: 9783549100264, 24 €.

Moritz Neumann: „Im Zweifel nach Deutschland“, 377 Seiten, ISBN 9783934920576, Hardcover, Zu Klampen Verlag, 2005, 24 €.

VON DR. JÖRG RAACH

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