Warten auf das Ungeheuerliche

Zum 100. Geburtstag von Friedrich Dürrenmatt

Während man noch auf dem Bahnsteig wartet, sind die Gedanken auf die Einfahrt des Zuges gerichtet: Wird der Zug pünktlich sein? Erreiche ich meinen Anschluss? Ist man einmal in den Zug eingestiegen, verlagert sich das Augenmerk und der Blick schweift durch die Abteile auf der Suche nach einem freien Sitzplatz. Die Aufmerksamkeit ist auf das Naheliegende beschränkt.

Der 24-jährige Student, den Friedrich Dürrenmatt in der Erzählung „Der Tunnel“ beschreibt, hat es sich in der Enge seines Daseins bequem gemacht. Er hat sich fett gefressen, „damit das Schreckliche … nicht allzu nah an ihn herankomme“. Um an seinem Seminar an der Uni teilzunehmen, steigt er in den gewohnten Zug ein und arbeitet sich durch die überfüllten Abteile, um einen leeren Sitzplatz zu ergattern. Im hintersten Wagen, in der dritten Klasse wird er unverhofft fündig. Allerdings hat der Student sich bereits vorgenommen, das Seminar zu schwänzen, und es ist im Grunde sinnlos, dass er überhaupt diese Zugfahrt unternimmt.

Was passiert aber, wenn eine andere Wirklichkeit hereinbricht? Eine Wirklichkeit, die den begrenzten Horizont sprengt?

Der Student bemerkt zum ersten Mal den Tunnel, durch den der Zug fährt. Die helle Sommerlandschaft wurde von der plötzlichen Dunkelheit des Tunnels verschluckt. Wage kann sich der Student daran erinnert, dass es auf dieser Strecke einen kurzen, kaum merklichen Tunnel gibt. Doch als der Zug auch nach einer Viertelstunde den Tunnel nicht verlassen hat, erkundigt er sich zunächst beim Schaffner und anschließend beim Zugführer nach der Ursache. Die Ahnung des Ungeheuerlichen hat ihn da schon beschlichen, auch wenn weder die anderen Fahrgäste noch das Zugpersonal seine Verwunderung teilen. Die Alltäglichkeit des Immergleichen ist mit einem Mal Vergangenheit und er erkennt, dass „er auf diesen Augenblick des Einbruchs, auf dieses plötzliche Nachlassen der Erdoberfläche, auf den abenteuerlichen Sturz ins Erdinnere“ ein Leben lang gewartet hat.

Das Nichts, mit dem er sich nun konfrontiert sieht, hat ihn immer umgeben, nur dass er zu bequem war, sich mit ihm auseinanderzusetzen.

Friedrich Dürrenmatt, der an diesem Dienstag seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte, hat mit seiner Erzählung „Der Tunnel“ die Vorstellung der Selbstverständlichkeit unseres Daseins ad absurdum geführt.

Friedrich Dürrenmatt: Der Tunnel und andere Meistererzählungen, Diogenes 2011, ISBN-13 : 978-3257239126, EUR 12.

VON SOPHIA HÖFF

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