Vorhin bekam ich eine SMS: „Treffen heute um Mitternacht an der synagoga staro“. Das kam mir komisch vor: „staro“ passt doch vom Genus her gar nicht mit „synagoga“ zusammen. Wo soll überhaupt die „Alte Synagoge“ sein?
Auch der Absender war mir unbekannt. Die Handynummer war unterdrückt und es hatte auch niemand einen Gruß hinterlassen. Trotzdem bildete ich mir ein, zu wissen, wer dahinter steckt. Das ganze roch mir arg nach Honsa, der oft auf solche Ideen kam.
Ich zerbrach mir nicht weiter den Kopf. Das ehemalige Judenviertel ist nicht groß, seitdem es vor 100 Jahren assaniert wurde. Auf dem Weg in die Stadt – mein Hotel liegt ziemlich weit draußen – las ich aus gegebenem Anlass im „Golem“ von Gustav Meyrink. Um 23 Uhr habe ich im Restaurant „Sedm konšelů“ in der Žatecká 10 zu Abend gegessen. Es hat sich zu einer Art Tradition entwickelt, dass ich immer, wenn ich in Prag bin, dorthin zum Entenessen gehe. Zwar war die gebratene Ente – wie immer, wenn man nicht zur Lunchzeit kam – schon aus, aber es gab genug anderes auf der Speisekarte. Mir ist alles mit Knedlicky recht. Von der Metrostation Staroměstská aus ist das Restaurant gut zu erreichen.
Im Restaurant hatte ich das ungewisse Gefühl, von jemanden beobachtet zu werden. Ich beachtete es nicht weiter, doch während ich anschließend die Zatecká entlang gehe, verstärkt sich dieser Eindruck. Gemessenen Schrittes laufe ich einige Meter und drehe mich dann ruckartig um: Die Straße ist völlig leer. Diese Verlassenheit schlägt mir wie etwas Unglückseliges auf den Magen. Die Dunkelheit der Nacht liegt auf der Umgebung, als wolle sie etwas verbergen. Das matte Licht der Straßenlaternen kommt dagegen nicht an. Beinahe glaube ich, dort ein Gesicht ausmachen zu können. Ich stiere in die Dunkelheit, um etwas zu erkennen. Da sehe ich, wie sich etwas bewegt. Ein dunkler Schatten, der riesenhaft auf mich zukommt. Mein Atem stockt. Abrupt reiße ich meinen Blick von der Stelle los und setze meinen Weg zügig fort. Wohin gehe ich eigentlich? Jetzt taucht vor mir eine Synagoge auf.

In diesem schummrig gelben Licht kann ich sie kaum erkennen. In den Fenstern spiegeln sich die Straßenlaternen wie grimmige Augen. Könnte das die „Alte Synogoge“ sein? Ich ziehe mein Handy aus der Handtasche und google hektisch nach den Synagogen in der Josefsstadt. Es handelt sich um die Pinkassynagoge. Rasch überfliege ich die Beschreibung: Die Pinkassynagoge wurde 1479 von Rabbi Pinkas als private Synagoge gegründet und im 16. Jahrhundert durch Elemente im Renaissancestil erweitert…
Diese Synagoge scheint mir nicht alt genug zu sein, als dass man sie „Alte Synagoge“ bezeichnen würde. Im Rücken spüre ich, wie mich etwas beharrlich belauert. Vom Eingang der Pinkassynagoge aus gehe ich die Široká geradeaus weiter. Links biege ich in die Meiselova ein.

Bald fällt mir ein Gebäude auf, das hinter Baugerüsten versteckt imposant in die Höhe ragt. Den Davidstern trägt es selbstbewusst vor sich her. Bei Google lese ich, dass es die Maiselsynagoge ist. Sie wurde im 16. Jahrhundert durch den wohlhabenden Bankier und Bürgermeister Mordechai Maisel erbaut.
Auch hier kann ich Honsa nirgends entdecken. Langsam beginne ich daran zu zweifeln, ob er die SMS tatsächlich geschrieben hat. Um mich herum gibt es nur Leere und Finsternis. An der Straßenecke höre ich etwas über das Pflaster stolpern. Ich zucke zusammen. Mein Blick erhascht gerade noch, wie eine dunkle Silhouette hinter einer Hausfassade verschwindet. Angespannt laufe ich auf die Stelle zu, wo die Gestalt gestanden hat, denn irgendetwas liegt dort auf dem Boden. Instinktiv greife ich danach: Es ist eine Hand, trocken, staubig. Sie ist in einer grotesken Greifhaltung erstarrt. Sie besteht aus Lehm. Verdutzt blicke ich auf diesen Fremdkörper, der schwer in meiner Hand liegt. Ich wage nicht, ihn auf den Boden fallen zu lassen, und lege ihn wie ein Kleinod sorgsam dorthin zurück, wo ich ihn gefunden habe.
Ohne darauf zu achten, wohin ich gehe, finde ich mich unversehens auf der Široká wieder und laufe geradeaus auf die Vězeňská zu. Ich fühle mich, als wäre die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit aufgelöst. Eingehüllt in mattes, schlaftrunkenes Licht ist alles seltsam entfremdet. Mir ist, als ob ich träume.
Da taucht plötzlich ein Mann vor mir auf! Wo sich der Kopf befinden sollte, sitzt neckisch ein Männeken. Überdeutlich prägt sich mir ein, dass ihm eine Hand fehlt. Ich muss an die Lehmhand denken, die auf dem Boden lag…
„Der Golem!“, schießt es mir durch den Kopf. Er ist das unfertige Geschöpf, das von Menschenhand aus Lehm geschaffen wurde. Es ist weder lebendig noch tot. Nur durch geheimnisvolle Formeln kann es belebt werden. Ich zwinge mich dazu, rational zu sein, und sage immer wieder vor mich hin: „Das ist bloß eine Statue!“

Die Spanische Synagoge, die neben der Statue steht, beachte ich gar nicht. Sie wurde im 19. Jahrhundert an der Stelle erbaut, wo im 11. Jahrhundert eine byzantinische Synagoge stand.
Schlafwandelnd streife ich weiter durch die Gassen. Grimassen glotzen von den Hausfassaden herab.
Von der Vězeňská irre ich zurück auf die Široká und biege in die Meiselova nach links ein. Dort treffe ich auf eine andere Synagoge. Google verrät mir, dass es die älteste Synagoge Europas ist: Die Altneusynagoge wurde 1275 erbaut. Den Namen trägt sie, weil es zur Zeit ihrer Erbauung bereits eine ältere Synagoge gab und im 16. Jahrhundert eine eine neue Synagoge gebaut wurde. Sowohl die Alte Synagoge als auch die Neue Synagoge wurden im Zuge der Assanierung zerstört; nur die Altneusynagoge blieb erhalten.
Bestürzt lese ich den Satz noch einmal: Es gibt keine Alte Synagoge. Stand denn nicht in der SMS, dass wir uns an der Alten Synagoge treffen? Schlagartig wird mir die tschechische Bezeichnung der Altneusynagoge bewusst: Staronová synagoga. In der SMS stand, dass wir uns an der synagoga staro… treffen. Gemeint ist staronová. Hier soll ich ihn treffen! Aber warum brach die SMS an dieser Stelle ab?
Ich drehe mich suchend um. Da bemerke ich, dass ein Mann direkt hinter mir steht. Ich bringe nur einen stummen Schrei hervor. Ich kann in der Dunkelheit das Gesicht nicht erkennen. Dessen Kleidung ist altmodisch und abgewetzt. Ungelenk bewegt sich sein Arm nach oben. Wie gebannt starre ich auf seine Hand. In der Dunkelheit wirkt sie fahl und grobschlächtig. Unvermittelt greift sie fest an meinen Hals. Entsetzt entwinde ich mich seinem Griff.
Ich renne kopflos in eine Gasse links von der Altneusynagoge hinein. Es kommt mir vor, als würde ich einen Tunnel entlang laufen, der nur in eine Richtung führt.


Wie das Licht die Motten anzieht, stürze ich auf das Haus am Ende der Gasse zu. Jeden Moment fürchte ich, den harten, unbarmherzigen Griff an meinem Nacken zu spüren.

Ich kann keinen Gedanken fassen. Stattdessen fühle ich meinen Herzschlag dröhnend gegen meine Schläfen pochen. Dieses Pochen kommt mir vor, wie die prasselnden Körner einer versiegenden Sanduhr.
Ich atme hastig und doch bekomme ich kaum Luft. Am Ende der Gasse angekommen, erkenne ich, dass dort ein Friedhof ist.
Am Ende des Tunnels gibt es kein Licht. Der Toreingang ist verschlossen und dahinter ist nichts als Dunkelheit. Mir wird Schwarz vor Augen und ich sinke vor dem Toreingang des Friedhofes zusammen.

Das Pochen wird lauter. Ich spüre die weichen Polster des Sofas unter mir. Auf dem Couchtisch liegt „Der Golem“. Draußen höre ich jemanden meinen Namen rufen und gegen das Türblatt pochen. Das ist Honsa, denke ich. Langsam dämmert mir, das ich mit ihm verabredet bin und auf ihn gewartet habe. Ich muss dabei eingeschlafen sein. Es ist erstaunlich, dass sich mir die Josefsstadt so detailliert ins Bewusstsein eingebrannt hat.
VON SOPHIA HÖFF
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