Im Gespräch mit György Konrád

György Konrád schreibt im Vorwort seines neu erschienenen Werkes: „Ich mag Bücher, bei denen man nach jedem Satz eine Pause einlegen muss.“ Unter dem Titel „Gästebuch. Nachsinnen über die Freiheit“ ist es im Suhrkamp-Verlag erschienen. Wer Konráds Anspruch teilt, muss dieses Buch mögen.

An diesem Mittwoch stellte der Autor es im Max-Liebermann-Haus vor. Zur Einführung sinnierte Professor Peter-Klaus Schuster, ein Vorstandsmitglied der Stiftung Brandenburger Tor, darüber, welchem Genre der Text wohl zuzurechnen sei, und greift damit die ersten Passagen des Buches auf. Insgesamt ist das Buch von einem reflektierenden, selbstkritischem und erfahrungsreichen Geist erfüllt.

Kindheit im Zweiten Weltkrieg

1933 in einem ungarischen Dorf geboren, entkam Konrád als 11-Jähriger knapp den Nazi-Schergen. Im Buch räumt er ein Schuldbewusstsein ein, das er seit frühester Kindheit empfunden habe, „nämlich dass hier etwas nicht in Ordnung sei und ich mich nur deshalb, weil wir ein wohlhabenderes Leben führten als die Anderen, vielleicht schämen müsse.“

Immer wieder ruft Konrád Menschen aus seiner Vergangenheit herbei. Gedanken über seine Rolle als Familienvater schließen an Gedanken an das Eheleben der Eltern an. Mütter verdienen Dank, schreibt Konrád. Aber auch die Väter würden ihr Schicksal tragen: „Aus jüdischem Arbeitsdienst, aus Kriegsgefangenschaft heimgekehrte Väter, als Kriegsverbrecher aufgehängte Väter, im Gefängnis gebrochene, vor Angst verblödete Väter…“ Die Menschen tragen in Konráds Gedankenwelt nicht nur ihr eigenes Schicksal, sondern werden gleichsam zum Schicksal für andere. Die Eltern prägen das Leben ihrer Kinder. Die Schwester ist für Konráds Mutter noch lebendig, auch als sie bereits verstorben war. Konrád bringt dies auf die Sentenz: „Wie die Füße das Laufen, so braucht der Mensch die Erinnerung.“

Strom der Erinnerung

Für manche Autoren mag das Phänomen der Gleichzeitigkeit ein Problem darstellen, denn der Plot verlangt eine Reihenfolge. Konrád steht über solchen Beschränkungen. Das Bewusstsein folgt keiner Chronologie, sondern springt von einem Ereignis der Vergangenheit in die Gegenwart und hält bei alledem ein teils erhofftes teils gefürchtetes Zukunftsbild lebendig. Diese Transluzidität und Gleichzeitigkeit des Bewusstseins fängt Konrád in seinem Text ein.

György Konrád überlebt in Budapest die Nazi-Okkupation unter dem Schutz eines Schweizer Botschaftsangehörigen. Auch seine Eltern, die im Mai 1944 deportiert wurden, überlebten. Anschließend studierte Konrád in Budapest Literaturwissenschaft und Soziologie bis zum Ungarnaufstand 1956.

In Sätzen, die selbst wie zusammenhanglose Trümmer nebeneinander stehen, zeichnet er ein erschütterndes Bild von Budapest 1956: „Budapester Trümmerlandschaft. Ausbrannte, eingestürzte, zerbombte Häuser oder durch Kanonenkugeln durchlöcherte Häuser, blinde Fenster…“ Leichen wurden notdürftig in Grünanlagen verscharrt, überall dort, wo lose Erde aufgehäuft werden konnte.

Begegnungen

An anderer Stelle beschreibt Konrád eine Begegnung mit dem jugoslawischen Schriftsteller Danilo Kiš, der offenbar ganz egal, wo er sich befand, der Mittelpunkt eines Gravitationsfeldes war. In dessen Nähe rekelten sich hübsche Frauen, um Danilos Aufmerksamkeit zu erhaschen. Auf die Weltprobleme angesprochen gab Kiš zu verstehen, dass „die menschlichen Probleme weder gelöst werden könnten noch müssten“.

Der Assoziationsteppich Konráds führt den Leser auch zur Wannseekonferenz. Dazu schreibt Konrád: „Endlösung? Hier stehe ich als ein Beispiel, dass es doch nicht vollkommen gelungen ist.“ Das Grauen des Holocaust bekommt ein Gesicht, wenn man erfährt: Abgesehen von seinen Cousins, seiner älteren Schwester und ihm selbst, seien alle Schulkameraden zusammen mit seinen Cousinen in Gas und Feuer ausgelöscht worden. Weiterhin schreibt er: „Von den moralisierend Fragenden wende ich mich ab und sage: Weder Rache noch Vergebung! Die Täter müssen mit dem eigenen Schuldbewusstsein leben. Wie lange? Lebenslänglich. Der Mörder bleibt bis zu seinem Tod ein Mörder.“

Es ist ein zirkulärer Gedankengang zu erkennen. Im Fortlaufen des Denkens tauchen immer wieder wie ein unhintergehbares Skandalon die Schulkameraden auf, die flankiert werden von Gedanken und Assoziationen über die Shoa, die Kindheit etc.

Anfänge als Schriftsteller

Von 1959 bis 1965 arbeitet Konrád als Jugendschutzinspektor für die Vormundschaftsbehörde eines Budapester Stadtbezirks. 1968 erschien sein erster Roman. Schon die Veröffentlichung des zweiten Romans „Der Stadtgründer“ war schwierig. György fasst das in dem Satz zusammen: „Auch Bücher haben ihr Schicksal.“ 1973 stellte er seinen zweiten Roman fertig. Zur selben Zeit wurde auch der Text „Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht“ vollendet, der von vornherein im Ausland veröffentlicht werden musste. Daraufhin wurden die Wohnungen Konrads und des Mitverfassers Iván Szelényi durchsucht und abgehört. Ein beträchtlicher Teil der Tagebuch-Aufzeichnungen Konráds wurden konfisziert. Die beiden Autoren wurden wegen staatsfeindlicher Hetze verhaftet und erhielten eine staatsanwaltliche Verwarnung. Im „Gästebuch“ schreibt Konrád: „Nachdem ich aus der Untersuchungshaft entlassen worden war, versuchte ich mich mit Budapest wieder anzufreunden. Ich stand an den Rolltreppen der Metrostationen und schaute den aus der Tiefe Aufteigenden in die Augen: Wer von Ihnen würde mich nicht ans Messer liefern.“

Gewohnheiten, die bleiben

Das Manuskript für den zweiten Roman war in einem Fach unter der Tischplatte versteckt, die man hochklappen konnte. Konrád erzählt, dass, wenn er zum ersten Mal einen Raum betritt, sein Blick nach Verstecken für Texte sucht. Erst 1977 erschien Konrads zweiter Roman auf Ungarisch, wobei er zuvor auf Deutsch (1975) veröffentlicht worden war. Nach der Wende erschien der Roman auf Ungarisch in nicht zensierter Fassung. Weil er zwischen 1978 und 1988 nicht publizieren durfte, reiste Konrád durch Westeuropa, Amerika und Australien. Das Publikationsverbot wurde erst 1989 aufgehoben.

Eine Empfehlung wert

Im Gespräch mit Terézia Mora beteuert er, alle seine Bücher gleich hoch zu schätzen. Das „Gästebuch“ erfüllt aber zweifellos alle Kriterien für ein Lieblingsbuch.

VON SOPHIA HÖFF

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